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[Game / C64] Bruce Lee (1984)

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Mit dem Namen könnte man jeder Veröffentlichung sofortige Relevanz verschaffen: BRUCE LEE. Der frühzeitig verstorbene Kampfsportler ist wohl der bekannteste Martial-Arts-Künstler der Welt; mit seiner immensen Körperbeherrschung, einer Handvoll Filme und einer Prise Lebensphilosophie erreichte Lee einen Legendenstatus, der anderen kultisch verehrten Ikonen wie James Dean, Jim Morrison oder Jimi Hendrix entspricht. Ich selber kenne Bruce Lee aber primär nicht durch seine Filme, sondern durch das vorliegende C64-Spiel von 1984. Das immens unterhaltsame Jump'n'Run-Abenteuer sorgte - gekoppelt mit der Ehrfurcht, mit der mein selber Kampfsport betreibender Freund Torsten mir damals von Lees Status berichtete - dafür, daß ich schon als Kind diesem Namen eine besondere Bedeutung zumaß.


Das Spielprinzip von BRUCE LEE ist simpel: Man steuert Bruce durch verschiedene Bildschirme, springt über Plattformen und klettert Leitern herauf und herunter, um die im Spielareal verstreuten Laternen einzusammeln. Wenn man in einem Bereich alles abgegrast hat, öffnen sich Türen und Wände zu neuen Bereichen. Damit das Ganze nicht zu einfach wird, lauern überall Fallen auf Bruce: Tödliche Spitzen sind an Decken und Böden angebracht, teilweise sind Tretminen ausgestreut, hier und da macht Starkstrom dem Spieler das Leben schwer. Dazu kommen zwei Gegner, die in den meisten Bildschirmen erscheinen und Bruce angreifen: Ein kleiner schwarzer Ninja und ein großer Sumo-Ringer namens Yamo. Bruce kann sich mit einem Faustschlag und einem Tritt (mit Anlauf!) zur Wehr setzen - wobei die Gegner selbst nach dem Sieg innerhalb kürzester Zeit wieder auftauchen. Es gilt also primär, sich rasch durch die einzelnen Bereiche durchzuarbeiten und flott alle Laternen einzusammeln, um weiterkommen zu können.

So einfach das Spiel aufgebaut ist, so flott spielt es sich auch: Man hakt sich schnell fest und versucht, doch noch ein paar Bildschirme weiter zu kommen. Die Kombination aus Plattform-Game und Kampf-Action war 1984 recht ungewöhnlich, aber dennoch liegt das Augenmerk hauptsächlich auf dem Jump'n'Run-Aspekt, der sich in manchen Leveln mit einem dezenten Puzzle-Prinzip paart: In späteren Arealen muß man erst mal herausfinden, was es wo einzusammeln gilt oder wie man bestimmte Fallen umgehen kann.


Der Schwierigkeitsgrad ist dabei eher moderat angesiedelt: Es gibt einige Bildschirme im späteren Spiel, die etwas haarig sind und ein wenig Übung brauchen, aber wenn man den Bogen einmal heraus hat, kommt man schnell zum Schluß - genaugenommen kann der versierte Spieler in 15-20 Minuten von Anfang bis zum Ende kommen, sobald er alles durchschaut hat. Der Endkampf ist dabei kaum der Rede wert: Bruce steht einem mächtigen Zauberer gegenüber, aber der ist so einfach erledigt, daß eher der trickreiche Raum davor als Finale gewertet werden kann. Nach dem Sieg beginnt das Spiel minimal schwerer von vorne - die Feinde kommen in schnelleren Abständen, und in einem Raum gibt es keine sicheren Plattformen mehr.

BRUCE LEE kann auch zu zweit gespielt werden - und das originellerweise nicht nur abwechselnd, sondern auch gegeneinander: In einem Modus steuert der zweite Spieler den angreifenden Sumo-Ringer. So kann einerseits probiert werden, Bruce aufzuhalten - oder aber man schließt sich zusammen und vertreibt sich die Zeit damit, im Ping-Pong-Verfahren den (ohnehin recht schwachbrüstigen) Ninja durch die Gegend zu kicken. Ich erinnere mich, wie ich mich als Kind hier mit viel Freude mit meinem Vater gekloppt habe, der stets den grünen Sumo übernommen hat (von dem ich damals - wohl auch aufgrund der grünen Farbe des Sprites - glaubte, es handle sich um einen Ork). Wo Papa Genzel beim C64-Monopoly stets auf der Siegerseite war, war die Angelegenheit hier doch wesentlich ausgewogener - nicht zuletzt, weil ich ja alleine üben konnte ...


Auch heute macht BRUCE LEE trotz der kurzen Spieldauer immer noch Spaß. Die Grafik ist selbst für damalige Verhältnisse recht schlicht, folgt aber einer eigenen charmanten Ästhetik, und der Sound ist jenseits der Ohrwurm-Titelmelodie eher spartanisch - wobei die Effekte vom Jingle beim Einsammeln einer Laterne über das lautstarke Fußtrippeln hin zum comichaften Kampfruf des Sumo-Ringers einen vergnüglichen Reiz bieten. Den flotten Spielablauf stört nicht einmal die Tatsache, daß sich die Spielfigur auf manchen nicht hunderprozentig planen Plattformen gerne kurz verhakt und man deshalb nicht immer so weglaufen kann, wie man das will - zu spaßig ist das Drumherum, zu motivierend der Spielaufbau und zu schnell das Vorankommen.

Und was hat das Spiel nun eigentlich mit dem echten Bruce Lee und seinen Filmen zu tun? Nun ja ... nicht wahnsinnig viel. Immerhin erinnert das Spielprinzip und der daraus resultierende Reiz an eins von Lees Zitaten: "Simplicity is the last step of art." So, und jetzt will ich mal wieder den Sumo-Ork in eine Tretmine locken ...

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[Game / PC] Bruce Lee II (2013)

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Der kürzlich hier wiedergespielte C64-Jump'n'Run-Klassiker BRUCE LEE von 1984 ist trotz seines im Computerspielbereich mittlerweile biblischen Alters von 29 Jahren immer noch ein vergnügliches und durchaus beliebtes Spiel - und so erschien vor kurzem ein inoffizielles Fan-Sequel, das zwar unter Windows läuft, aber in Präsentation und Gameplay direkt an das Original anknüpft. Genaugenommen geht der Retrofaktor hier so weit, daß man anfangs einstellen kann, ob man Grafik und Sound à la C64 genießen will oder doch lieber eine der CPC-Version nachempfundene Fassung spielen mag.

In der Tat sind beide Versionen sehr dicht am Originalspiel dran - es gibt nur ein paar geringfügige Änderungen: Bruce fällt schneller als im alten Game, er pausiert nach einem Flugtritt nicht mehr, und er verhakt sich nicht mehr an leicht unebenen Plattformen. Ansonsten aber spielt sich BRUCE LEE II, als hätte Datasoft 1985 eine Zusatzdiskette mit neuen Levels veröffentlicht: Noch immer steuert man die Martial-Arts-Legende durch Räume mit Plattformen, Leitern sowie diversen Fallen und versucht, die herumhängenden Laternen einzusammeln, damit sich Türen und Wände zu neuen Arealen öffnen. Und nach wie vor wird Bruce dabei von lästigen Gegnern bedrängt, die immer wieder auftauchen.


Besagte Gegner sind diesmal etwas vielfältiger als im Original, wo der Spieler dauerhaft von einem kleinen schwarzen Ninja und einem großen grünen Sumo-Ringer drangsaliert wurde. Diesmal gibt es drei Hauptfeinde: Neben einem Samurai greifen kleine Versionen von Kareem Abdul-Jabbar (aus BRUCE LEE - MEIN LETZTER KAMPF) und Chuck Norris (aus DIE TODESKRALLE SCHLÄGT WIEDER ZU) an. Später taucht auch der Ninja wieder auf, und selbst der Ork-hafte Sumo-Ringer kriegt einen kleinen Gastauftritt. Durch die größere Vielfalt an Gegnern können hier auch bis zu drei Fieslinge auf einmal Unmut verbreiten.

Auch im Leveldesign hat sich der für die Fan-Fortsetzung verantwortliche Programmierer Bruno R. Marcos einige Neuigkeiten ausgedacht, die sich problemlos ins existierende Spielprinzip einfügen. In manchen Räumen gibt es Wasser, durch das Bruce schwimmen und tauchen kann - und so kann es auch passieren, daß dem Spieler die Luft ausgeht. Es gibt bewegliche Plattformen, die man erwischen muß, um nicht in den Tod zu stürzen; an einer Stelle muß man an einem Hebel ziehen, um eine Brücke herabzulassen, über die man einen Abgrund überqueren kann.


Weil sich das Game fast genauso wie das Original spielt, findet man schnell ins Spiel hinein - und darf sich aber schon bald einem erhöhten Schwierigkeitsgrad stellen. So wie damals gibt es nur eine begrenzte Anzahl an Leben - auch wenn heutzutage im Vorfeld eingestellt werden kann, daß man über unendliche Leben verfügt (was der Retrozocker natürlich indigniert ablehnen wird). Auch wenn das Spiel von der Spieldauer her nur unwesentlich über dem Erstling liegt, gibt es doch hier einige Räume und Fallen, die schlichtweg in Frust ausarten - allen voran ein Raum, dessen Boden unter Strom gesetzt wurde. Auch im Original gab es so eine Sequenz, die aber mit etwas Übung gemeistert werden konnte - hier läuft alles viel schneller, und selbst, wenn man schon eine Strategie zum Springen hat, beißt man immer wieder ins Gras, weil man nicht flink genug war. Dennoch ist ein Durchkommen machbar - und der Endkampf gegen den finsteren Zauberer, der Lees Schwester entführt hat, bietet im Gegensatz zum alten C64-Game tatsächlich eine nette Herausforderung.

So bietet BRUCE LEE II eine unterhaltsame Zusatzherausforderung für Freunde des Originals, die mit dieser Pseudo-Fortsetzung einige vergnügliche Stunden verbringen dürften. Noch schöner wäre es natürlich gewesen, wenn das Spiel tatsächlich auf dem C64 spielbar gewesen wäre - aber dem geschenkten Martial-Arts-Künstler schaut man ja bekanntlich nicht unter den Fuß ... oder so.



Das Spiel kann auf der Homepage des Programmiers heruntergeladen werden: hier.

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[Film] Cthulhu Mansion (1992)

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Was erwartet man als erfahrener Horrorfreund, wenn ein Film CTHULHU MANSION heißt und man vom Vorspann informiert wird, der Film sei "inspired by the writings of H.P. Lovecraft"? Eine durchaus korrekte Antwort wäre natürlich "nicht viel", die passendere lautet allerdings so: Nichts, was auch nur im Entferntesten etwas mit Lovecraft zu tun hat.

In der Tat wäre Poe die trefflichere Hausnummer für diesen spanisch-englischen Gruselfilm, der im Original adäquat LA MANSIÓN DE LOS CTHULHU heißt und von Juan Piquer Simón inszeniert wurde, der uns schon mit billigem Unterseehorror (SIRENE I), billigem Slasherspaß (PIECES - STUNDEN DES WAHNSINNS) und billigen Science-Fiction-Begegnungen (DIE AUSSERIRDISCHEN BESUCHER) beglückt hat. Zum guten alten Edgar Allan ließen sich hier weitaus mehr Bezüge herstellen als zu Herrn Lovecraft: Ein altes Spukhaus, eine mysteriöse schwarze Katze, eine Hauptfigur mit buchstäblich im Keller weggesperrtem Schuldgefühl - es mag Zufall sein, weil es sich um so allgegenwärtige und traditionsreiche Horrormotive handelt, aber wenn schon literarischer Bezug suggeriert wird und jenseits des Namens "Cthulhu" keiner vorhanden ist, puzzelt das Gehirn ja fast von alleine die sich anbietenden Querverbindungen zusammen.

"Ruhe da hinten, sonst zersäge ich einen Lovecraft-Roman!"
Chandu (Frank Finlay) auf der Bühne.

Worum geht's also in CTHULHU MANSION? Also: Der Bühnenzauberer Chandu (vermutlich nicht der aus der Hörspielreihe der Dreißiger Jahre) wollte tiefer in die Geheimnisse der Magie eindringen und hat dazu einen Pakt mit einem Dämon geschlossen. Leider hat dieses okkulte Interesse schon bald ein Opfer gefordert: Chandus Assistentin (und Ehefrau) ging bei einer Vorführung in Flammen auf. Viele Jahre später werden Chandu und seine (schon erwachsene) Tochter von einer Gang von Drogendealern entführt, die auf Chandus Landsitz Unterschlupf suchen wollen. Schade nur, daß dort die dämonische Kraft wieder erwacht und sich schön langsam über die Hausbesetzer hermacht ...

Es ist also eher eine Spukhausstory, die hier serviert wird: Eine Gruppe von Leuten tapst durch ein altes Haus, in dem sich immer merkwürdigere Dinge ereignen. Das Licht flackert, ein Stuhl fliegt umher, und einer der Burschen aus der Gang zeigt Symptome von Besessenheit. Und freilich dauert es nicht lang, bis die Gesellschaft nach und nach dezimiert wird: Billy, der beim Reden immer die Augen ganz rund macht und das Gesicht verzieht, ertrinkt beispielsweise in einer Duschkabine, die sich flugs mit Blut füllt, während seine Freundin von haarigen Klauen in den Kühlschrank gezogen wird.

"Okay, Gesichterassis. Jetzt trollt euch. Fahrt noch'n bißchen Geisterbahn."
Billy (Paul Birchard, rechts) zeigt Eva (Melanie Shatner) und Hawk (Brad Fisher),
was er alles mit seiner Gesichtsmuskulatur machen kann.

Es hat einen gelegentlichen altmodischen Charme, wie sich das Böse hier manifestiert - vor allem bei dem angedeuteten Eisschrankmonster, aber auch sonst bei Nebel und Regen und herumfliegenden Einrichtungsgegenständen. Simón setzt weniger auf drastische Effekte und dicken Terror als auf eine gewisse Grundatmosphäre und eine sich zuspitzende Abfolge an unwirklichen Geschehnissen - die neben den üblichen Horrormomenten (das Licht geht plötzlich aus!) auch immer ein paar nette Ideen bieten (zum Beispiel die nicht erklärte wiederholte Schwarz-Weiß-Projektion von Chandus Bühnentricks im Wohnzimmer des Landsitzes).

Dennoch muß der wohlwollende Gruselfreund ein bis drei Augen zudrücken: Die Angelegenheit ist schon reichlich billig inszeniert und sorgt mitunter für Heiterkeit. Am Anfang schlägt ein Gangmitglied einen am Boden liegenden Wachposten fast krankenhausreif, indem er ihm dreimal sachte ins Kreuz tritt; wenn das Licht im Landsitz ausgeht, untersucht Billy den Sicherungskasten, der für das dreistöckige Haus ganze vier Sicherungen bietet (wohl für jedes Stockwerk inklusive Keller eine). In der ersten Filmhälfte verfolgt ein sinistrer schwarzer Kerl unsere Bande und beobachtet sie vom Auto aus, nur um dann erschossen zu werden - kurz vorher wird noch eingeflochten, daß er hinter dem von der Gang geklauten Stoff her ist, aber das macht seinen in mysteriöse Längen gedehnten Part keinen Deut weniger überflüssig. Ein wundervoller Moment ist auch, wie die burschikos fesche Eva (Melanie Shatner - Captain Kirks Tochter!) in einem hysterischen Anfall plötzlich Topfpflanzen zu Boden wirft, als könnten die irgendetwas dafür.

Sauberkeit kommt gleich nach Gottesfurcht!

Und wie kommt jetzt der gute Lovecraft ins Spiel? Ganz klar: Auf dem Heft, das sich Chandu seinerzeit zur okkulten Fortbildung gekauft hat, steht groß "Cthulhu". Und deswegen hat er seinen Landsitz auch CTHULHU MANSION getauft; der Name prangt ehrfurchtgebietend über dem Tor. Und wenn man sich überlegt, wie oft Herr Lovecraft den Namen "Cthulhu" niedergeschrieben haben dürfte, macht die Behauptung "inspired by the writings of ..." doch wirklich Sinn.




Cthulhu Mansion (Spanien/England 1990)
Originaltitel: La mansión de los Cthulhu
Regie: "J.P. Simon" (= Juan Piquer Simón)
Drehbuch: "J.P. Simon" (= Juan Piquer Simón)
Kamera: Julio Bragado
Darsteller: Frank Finlay, Marcia Layton, Luis Fernando Alvés, Brad Fisher, Melanie Shatner, Kaethe Cherney, Paul Birchard, Frank Braña

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[Film] Brot und Spiele - Interviews

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Zu meinem geplanten zweiten Spielfilm BROT UND SPIELE (Teaser: hier) sind jetzt zwei kurze Interview-Clips online, in denen die Darsteller über das Projekt reden. Beide Interviews wurden während des Teaserdrehs gefilmt.

Hier reden die beiden Hauptdarsteller Thomas Limpinsel und Götz Otto - nicht in jeder Sekunde hundertprozentig ernst - über ihre Rollen, die Retrogaming-Thematik des Films, ihre eigenen Computererfahrungen und darüber, wie sie zum Projekt gekommen sind.


Hier spricht Spieleveteran Heinrich Lenhardt (Power Play, PC Player) über seine Rolle im Teaser und darüber, was ihn an dem Projekt reizt.

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[Film] Tricked (2012)

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Ein neuer Film von Paul Verhoeven? Schon gekauft! Sekunde aber: TRICKED (bzw. STEEKSPEL im niederländischen Original) ist kein absolut vollwertiger Spielfilm und schon gar kein neues Epos des Mannes, der in Holland provokante Werke wie TÜRKISCHE FRÜCHTE und BLACK BOOK drehte und dazwischen in Hollywood subversives Popcornkino wie ROBOCOP, STARSHIP TROOPERS und BASIC INSTINCT ablieferte. TRICKED ist gewissermaßen ein Experimentalfilm, dessen Experiment in der Entstehung liegt - und im knapp einstündigen Ergebnis wahlweise als langer Kurzfilm oder als sehr kurzer Spielfilm betrachtet werden kann.

Am Anfang stand ein vierseitiger Drehbuchbeginn von Autorin Kim van Kooten: Auf der Feier zum 50. Geburtstag des Familienvaters Remco taucht plötzlich dessen ehemalige Geliebte Nadja auf - hochschwanger im achten Monat. Aus dieser Prämisse wurde eine Art Talentwettbewerb geschmiedet, der den zahlreichen Gesangscastingshows nicht unähnlich scheint: Die Zuseher konnten Drehbücher und Videos einsenden, wie die Geschichte weitergehen würde - und so sollte TRICKED quasi in mehreren kurzen Episoden entstehen, die sich dann letzten Endes zur kompletten Geschichte verknüpfen würden.


In den Festivalversionen wie auch auf Blu-Ray und DVD wird dem Experiment die halbstündige Doku PAUL'S EXPERIENCE vorangestellt, in der Verhoeven nicht nur davon schwärmt, wie spannend es ist, sich auf ungewohnte Prozesse einzulassen, sondern auch von den Schwierigkeiten der Herangehensweise berichtet: Letztlich war keines der mehreren hundert Bücher, die eingeschickt wurden, wirklich durchgehend brauchbar - so daß Verhoeven selbst zusammen mit Co-Autor Robert Alberdingk Thijm aus den zahlreichen abgelieferten Ideen die brauchbaren Einzelstücke heraussiebte und selbst den Fortlauf der Geschichte bestimmte.

Angesichts der Entstehungsgeschichte ist das Überraschendste am Film zunächst die Beobachtung, wie wenig man ihm seinen Prozess letztlich anmerkt. In der Tat funktioniert TRICKED als thematische Tangente zu Verhoevens üblichen Themen - zum Beispiel dem Einsatz von Sexualität zur Machtgewinnung - so passend, daß man auch ein traditionelles und von vornherein durchkonzipiertes Skript hinter dem Film vermuten könnte und sich nur über die unübliche Länge wundern würde. Ganz gewiß verhalten sich alle Figuren so, wie man es von anderen Verhoeven-Streifen kennt: Sie werden durch sexuelle Begierden gesteuert, lügen und betrügen, üben sich in Machtspielen und manipulieren einander.


Die Geschichte ist dabei kein komplexes Schwergewicht, aber dennoch ein vergnügliches Spiel mit Überraschungen und interessant gezeichneten Figuren - deren verworrene Beziehungs- und Arbeitssituationen anderswo Stoff für banales Soap-Drama geliefert hätten, aber unter Verhoevens versierter Regie eine nachvollziehbare Authentizität entwickeln. So gesehen ist TRICKED eigentlich Verhoevens Rückkehr zu den Dramen seiner Anfangstage: Angesichts einer mit Bugs, Brüsten und Brutalität gefüllten Vita vergißt man bei aller Brillanz der bekannten Werke gerne mal, daß Paul anfangs hauptsächlich menschliche Beziehungen seziert hat. Selbst die Inszenierung schließt eine Klammer zu TÜRKISCHE FRÜCHTE: Auch TRICKED wurde vornehmlich mit Handkameras gedreht und ordnet die Inszenierung ganz dem Schauspiel unter.

Nur gelegentlich blitzt die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte durch: Etwa, wenn in den anfänglichen Minuten des Films die junge Tochter mitsamt ihrer sexuell recht freizügigen Freundin hemmungslos kokst, aber später beide nie mehr so gezeigt werden oder das Element Einfluß auf ihre Handlungen hätte. Ganz offenbar wurde die Idee zugunsten anderer Entwicklungen unter den Teppich gekehrt. Dennoch gelingt Verhoeven das Kunststück, alle Stränge und Entwicklungen zu einem organischen Abschluß zu bringen - angesichts der Tatsache, daß (wie er in der Doku erläutert) in manchen Entwürfen plötzlich die Mafia auftauchte oder die Figuren aus anderen Gründen dahingemeuchelt wurden, zeugt die Entscheidung, doch die narrative Gestaltung nicht ganz aus der Hand zu geben, dann doch von der gesunden Erfahrung eines langjährigen Geschichtenerzählers.


Als Film ist TRICKED somit ein sehenswertes, wenn auch nicht wahnsinnig wichtiges neues Werk eines Filmschaffenden, der in den letzten Jahren viel zu selten Gelegenheit hatte, neue Geschichten zu inszenieren. Als filmisches Experiment wirft die Angelegenheit einige durchaus interessante Fragen auf: Wie wichtig ist die Vision einer übergeordneten Erzählstimme (sei es der Regisseur, ein Autor oder ein geschlossenes Autorenteam) für die Entstehung von befriedigend erzählten Geschichten? Wie weit können kreative Prozesse im Schwarm angepackt werden? Welche Probleme tun sich auf, wenn es plötzlich hunderte von Autoren gibt, und welche Vorteile können sich ergeben? Können kreative Prozesse überhaupt wie technische angegangen werden - kann also ein Drehbuch wie eine OpenSource-Software vom Input möglichst vieler Beteiligter profitieren, um bessere Lösungen zu finden?

Meine eigenen Antworten auf diese Fragen scheinen sich mit Pauls angedeuteten Erfahrungen in der Doku zu decken: Ja, eine übergeordnete Stimme ist ungemein wichtig - immerhin läßt man sich bei einem Kunstwerk (ich verwende den Begriff in dem Sinne, daß jeder Film als kreatives Objekt betrachtet wird) auf die Ideen des Künstlers ein; dieser "Erzähler" erlaubt mit seinem Werk einen Blick auf die Welt, der uns quasi mit anderen Augen sehen läßt. Eine Massenentscheidung über kreative Prozesse kann eigentlich nur in Anhäufungen von Klischées enden (weil Personen ohne die erzählerische Übung zunächst in altbekannten Stereotypen denken - so wie z.B. die meisten Nicht-Autoren einen Krimi mit einem Mord oder einer Polizeiermittlung anfangen lassen würden) oder aber in einer Verwässerung der einzigartigen Ideen, die auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner nivelliert werden. Kunst ist eben kein Prozeß mit klar definiertem Ziel, weshalb er auch nicht im Sinne eines Computerprogramms optimiert werden kann.


Aber vielleicht zeigen findige und ungewöliche Künstler uns eines Tages ja doch noch, wie so ein Crowd-Ansatz kreativ genutzt werden kann. Bis dahin darf man TRICKED beinahe als positiv gescheitertes Experiment ansehen: Letzten Endes scheint sich Verhoeven mit dem Ansatz ja nur mehr Arbeit aufgehalst zu haben, und der unbefriedigende Input hat ihn dazu gebracht, doch wieder nach klassischerer Art die Geschichte weiterzuführen bzw. zu beenden. So oder so ist es großartig und inspirierend, daß sich ein über 70-jähriger Regisseur ins kreative Neuland begibt - und das Resultat wäre auch ohne den modernen Ansatz ein Gewinn für uns.




Tricked (Niederlande 2012)
Originaltitel: Steekspel
Regie: Paul Verhoeven
Buch: Kim van Kooten, Robert Alberdingk Thijm, Paul Verhoeven & 397 Wettbewerbsteilnehmer
Kamera: Lennert Hillege
Musik: Fons Merkies
Darsteller: Peter Blok, Jochum Ten Haaf, Sallie Harmsen, Robert de Hoog, Gaite Jansen, Ricky Koole, Carolien Spoor, Pieter Tiddens
FSK: 12

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[Film] Ich bin du, und du bist ich (1998)

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Der Körpertausch gehört seit geraumer Zeit zum Erzählrepertoire des Kinos - kein Wunder, erlaubt es uns doch außer der Literatur sonst kein Medium so sehr, in die Haut anderer Menschen zu schlüpfen. Deswegen werden im Film Identitäten nicht nur metaphorisch getauscht - zum Beispiel im Sinne der Verwechslungsgeschichte - sondern auch gerne mal tatsächlich: Da findet sich ein Junge im Körper eines Erwachsenen wieder (BIG), Elternteil und Kind tauschen ihren Körper (ICH BIN DU oder FREAKY FRIDAY) und einge junge Frau wird zum alten Mann (BODY SWITCH). Der Perspektivenwechsel erlaubt es uns, etwas über Empathie zu erfahren, soziale Rollen zu untersuchen oder die Diskrepanz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit auszuloten. Im Falle von Peter Bogdanovichs ICH BIN DU, UND DU BIST ICH lernen wir hauptsächlich etwas über Zeitverschwendung.

Der für Disney inszenierte TV-Film fällt in die Zeit zwischen 1994 und 2004, in der der einst für sein bitter-melancholisches Drama DIE LETZTE VORSTELLUNG gefeierte Regisseur sich nach diversen finanziellen Mißerfolgen hauptsächlich als Handwerker beim Fernsehen verdingen mußte. Dort blieb von seinem Stil und seinen Interessen natürlich nur wenig über - weshalb man in dieser Schaffensperiode solide inszenierte Krimis (NAKED CITY - EIN FEST FÜR EINEN KILLER), Biopics (HUSTLE) oder Dramen (TO SIR, WITH LOVE II) ebenso findet wie eine verunglückte Körpertauschkomödie - nämlich der vorliegende Film, der im Original A SAINTLY SWITCH heißt.


Zwischen Footballspieler Dan (David Alan Grier) und seiner Frau Sara (Vivica A. Fox), die neben dem Hausfrauendasein noch zeitweise als Kunstlehrerin arbeitet, herrscht beständig dicke Luft: Beide fühlen sich vom jeweils anderen mißverstanden und vernachlässigt. Nach einem Unzug nach New Orleans, wo Dan bei einer neuen Mannschaft anheuert, finden ihre beiden Kinder im neuen Haus einen geheimen Raum mit Voodoo-Materialien - die sie flugs dazu nutzen, daß Mama und Papa die Rollen tauschen müssen. Ab sofort muß also Sara im Körper von Dan das Footballfeld unsicher machen, während Dan am heimischen Herd das Essen anbrennen läßt ...

Man ahnt schon an der Zusammenfassung eines der grundlegenden Probleme des Films: Hier werden Rollenklischées abgespult, daß man weinen könnte. Der toughe Mann im harten Kontaktsport, der sich schwer damit tut, über seine Gefühle zu reden, und die höchst erwachsene und schwerst sensible Hausfrau, die immer für Heim und Familie da ist und nebenher fremden Kindern ein paar schöne Bilder zeigt - alleine die Figurenzeichnung zeigt, wie unambitioniert (und im Kern zutiefst reaktionär) das Skript vorgeht. Hätte man nicht zum Beispiel Karrierefrau und Hausmann, Sportlerin und Lehrer, toughe Sie und empfindsamen Er zusammenstellen können, um wenigstens ein paar Schritte von den offensichtlichsten Stereotypen wegzurücken?


Aber nein, genau diese Stereotypen sind es nämlich, auf denen der Witz des Films aufbaut - wobei das Wort "Witz" hier als Intention und nicht als Resultat zu verstehen ist. So darf Sara als Dan auf dem Footballfeld tuckig herumlaufen und Weinkrämpfe kriegen, weil der böse Coach sie dauernd anschreit; umgekehrt darf Dan als Sara ungeniert rülpsen, Kaugummi kauen, unmögliche Schlabberklamotten tragen und wie ein Prolet reden. Ehrlich: Mich macht so ein Weltbild eigentlich nur sehr traurig. Aber was weiß ich denn schon? Mario Barth hat aus solchen Allgemeinplätzen eine ganze Karriere aufgebaut.

Wie tiefverwurzelt dieses Geschlechterverständnis - der Mann verdient die Brötchen, die Frau putzt Heim und Kinder - hier sitzt, zeigt sich letztlich auch an der herablassenden Art, wie Saras Nebenjob als Kunstlehrerin abgehandelt wird: Es gibt exakt eine Szene, in der Sara/Dan in einem Klassenzimmer gezeigt wird - der Rest des Films widmet sich ausführlichst dem Football-Drama, weil Papas Sieg ja für das finanzielle Wohl der Familie essentiell ist. Wir lernen übrigens, daß auch der unfähigste Spieler mit ein paar Stunden Training seitens seines Lebenspartners in kürzester Zeit reif für den Superbowl ist - und denken lieber nicht darüber nach, daß es Dan und Sara in vielen Jahren Ehe offenbar nie geschafft haben, sich auch nur eine Sekunde lang für die Tätigkeit des anderen zu interessieren, weswegen sie selbst einfachsten Begriffen und Konzepten völlig hilflos gegenüberstehen. Man fragt sich sonst, ob so eine Beziehung tatsächlich gerettet werden sollte.


Und nein, viel kann Bogdanovich wohl nicht für diesen plumpen Käse, den er als Auftragsarbeit routiniert und gänzlich uninspiriert heruntergekurbelt hat. Wobei es doch überrascht, wie ein Mann, der anderswo aus so vielen Schauspielern so bemerkenswerte Leistungen herauskitzeln konnte, hier seine beiden Hauptdarsteller derart plakativ und aufgesetzt agieren lassen kann - Fox und Grier spielen, als müßte selbst das langsamste Kind in der letzten Reihe noch erklärt bekommen, was hier abläuft. Als Spiegel zueinander sind beide ohnehin unbrauchbar, aber sie schaffen es hier nicht einmal, glaubwürdig eine im falschen Körper gefangene Person zu vermitteln.

Das einzige, was hier an Bogdanovichs sonst so großartiges Kino erinnert, ist der Einsatz von alten Louis-Armstrong-Songs - und die genießt man wohl doch lieber mittels einer Platte. Und danach sieht man sich gleich THE CAT'S MEOW an, um sich wieder zu vergewissern, daß Bogdanovich auch heute noch bemerkenswerte Filme machen kann - wenn man ihn nur läßt.




Ich bin du, und du bist ich (USA 1998)
Originaltitel: A Saintly Switch
Regie: Peter Bogdanovich
Drehbuch: Sally Hampton, Haris Orkin
Musik: Terence Blanchard
Kamera: James Gardner
Darsteller: Vivica A. Fox, David Alan Grier, Al Waxman, Scott Owen Cumberbatch, Shadia Simmons, David Keeley, Rue McClanahan, "Louise Straten" (= Louise Stratten)

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[Promotion] Die 4K-Frage

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Man könnte ja glauben, daß mit HD-Fernsehern und BluRay das Ende der Fahnenstange erreicht ist, was die optische Qualität von Filmen angeht. Aber natürlich hätte man sich denken können, daß da nach oben hin noch jede Menge Luft ist - und vielleicht werden wir dem, was wir heute als BluRay-Standard genießen, in fünfzehn Jahren ähnlich skeptisch gegenüberstehen, wie wir es heute bei den ganz alten DVDs tun, die für die damalige Zeit fantastische Bildqualität boten und uns heute mit kantigen Pixeln und verschwommenen Konturen abschrecken.

Sony jedenfalls stellt momentan eine Palette an 4K-Fernsehern vor, die die vierfache Auflösung eines üblichen HD-Schirms versprechen. Das ist eine immense Menge an zusätzlicher Bildinformation - die momentan noch gar nicht richtig genutzt werden kann: Selbst die jüngsten "4K Mastered"-BluRays diverser Filme aus dem Sony-Katalog (darunter mit GHOSTBUSTERS und TAXI DRIVER auch zwei veritable Klassiker) können aufgrund des Platzmangels keine vollwertige 4K-Auflösung bieten. Ich bin gespannt, wie die tatsächlichen 4K-Versionen, die wahrscheinlich nicht mehr allzu lang auf sich warten lassen werden, dann aussehen. Vielleicht gibt es ja denselben Effekt, als ich damals als BluRay-Skeptiker bei einem Freund Carpenters THE THING in HD vorgeführt bekam und schon nach ein paar Momenten wußte, daß ich dringend aufrüsten muß - man wird sehen.

Ganz unabhängig von der Frage, ob man zwangsläufig jetzt sofort viel Geld investieren muß, stehe ich dem Trend, Filme möglichst immer besser aussehen zu lassen, positiv gegenüber: Als Filmliebhaber will ich jeden Streifen in seiner bestmöglichen Version sehen. Ich gebe zu: Ich habe lange Zeit auf einem Winz-Fernseher geschaut und dann auf kleinem Computerschirm - und ich behaupte nach wie vor, daß ein packender Film auch in "klein" ebenso packend ist. Aber in groß und scharf entfaltet so ein Film dann doch nochmal eine ganz andere Wirkung - die Details entwickeln eine andere Lebendigkeit, die Gesichter der Schauspieler vermitteln selbst kleinste Regungen umso eindringlicher. (Schade, daß in der Musik keine ähnliche Haltung existiert: Dort geben wir uns mit immer flacheren und spannungsloseren Abmischungen zufrieden, anstatt auch diese Kunstform in bestmöglichem Glanz erstrahlen zu lassen.)

Wer also fünf- bis achttausend Euro herumliegen hat oder einfach neugierig ist, kann sich die 4K-Fernseher ja mal auf der Sony-Website anschauen ...

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[Film] Blutgericht in Texas (1974)

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Von allen großen Horrorklassikern ist dieser hier wahrscheinlich der nihilistischste: In Tobe Hoopers THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE begleitet uns der Tod von der ersten Einstellung an. Um viel mehr geht es nicht: In der bizarren Schlachthauswelt, die hier gezeichnet wird, gibt es primär nur wahnsinnige Täter und beinahe anonyme Opfer. Der Grundriß der Geschichte ist selbst unter Abzug der Tatsache, daß er dekadenlang als Blaupause für jeden zweiten modernen Horrorfilm dienen durfte, eine gänzlich banale Angelegenheit: Fünf Freunde fahren ins Grüne und fallen einer nach dem anderen einer verrückten, mörderischen Familie in die Hände. Aber was Regisseur Tobe Hooper aus dieser Minimalprämisse macht, hat selbst nach fast 40 Jahren immer noch das Potential, sich tief in die Vorstellungskraft des Zusehers einzugraben.

Schon die ersten paar Einstellungen geben den Ton an: In kurz aus dem Schwarz aufleuchtenden Bildern sehen wir einen verwesenden Körper. Diese morbide Faszination an der Vergänglichkeit wird uns die gesamte Laufzeit lang begleiten: Es folgt das Bild einer auf einem Grabstein aufgerichteten Leiche - im Off dazu ein Radiobericht über Grabschändungen - und gleich darauf ein totes Gürteltier, das auf der Straße liegt. Unsere sogleich in die Handlung eingeführten fünf Freunde lenken von der makabren Stimmung kaum ab: Sie sind unter anderem unterwegs, um das Grab eines Großvaters zu besichtigen, und einer der Freunde, ein im Rollstuhl sitzender junger Mann, berichtet hingebungsvoll von den maschinellen Umrüstungen in einem nahegelegenen Schlachthaus. Daß dazu Bilder von Kuhherden gezeigt werden, läßt uns ahnen, daß sich auch unsere Protagonisten auf dem direkten Wege zu ihrer Hinrichtung befinden.


Sie nehmen einen Anhalter mit irrem Blick mit, der nach kurzer Unterhaltung erst sich selber in die Hand und dann dem Rollstuhlfahrer in den Arm schneidet, bevor ihn die anderen aus dem Kleinbus werfen. Sie werden ihn später wiedertreffen: Der Anhalter entpuppt sich als Mitglied einer Familie, die nahe des heruntergekommenen Hauses wohnt, zu dem die Jugendlichen fahren. Diese Familie tötet ohne viel Aufhebens jeden, der sich in ihre Nähe begibt - und nutzt die Leichenteile und Knochen wahlweise zur Dekoration ihres Hauses oder aber als Nahrung. Keine guten Aussichten für unsere fünf Protagonisten, deren Zahl sich schon bald verringert.

Viel mehr noch als die ständige Präsenz von Tod und Verwesung ist es der Schmutz, der sich in der Erinnerung des Zusehers festsetzt: THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE ist in jeder Pore dreckig. Und das im buchstäblichen Sinne - alles ist alt, gebraucht, verschmiert, versifft, unaufgeräumt und unordentlich - und im weitergefaßten, übertragenen: Da werden Menschen lebendig an Fleischerhaken aufgehängt, im Haus der verrückten Familie befindet sich unter anderem ein Stuhl, dessen Armlehnen aus tatsächlichen Armen gemacht sind, und der größte Schlächter dieser Familie trägt eine aus menschlicher Haut zusammengenähte Maske (die ihm den Namen "Leatherface" gab). Der Film ist wie ein Blick in den dunkelsten, fürchterlichsten Teil der menschlichen Seele - dort, wo nichts von Sinnhaftigkeit und Ordnung bestimmt wird, sondern Ängste und Aggressionen hausen. Man weiß nicht, ob man so genau hinsehen will, aber wegschauen kann man auch nicht wirklich.


Wahrscheinlich ist es dieser Zwiespalt, der dafür sorgt, daß THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE zu den wenigen Filmen gehört, in denen jeder mehr gesehen haben will, als tatsächlich gezeigt wird. Es gibt wenig tatsächliches Blut auf der Leinwand, die Morde und Verstümmelungen geschehen entweder so, daß die tatsächlichen Wunden durch die Kameraperspektive verdeckt sind, oder gleich ganz im Off. Abgesehen von ein paar kurzen Schnitten - die auch weitaus weniger explizit sind, als man meinen könnte - ist kein Splattereffekt wahrzunehmen; selbst das Aufhängen am Fleischerhaken geschieht nur durch geschickte Perspektiven und Bewegungen, ohne je eine Wunde zu zeigen. Und doch lösen die Bilder - wahrscheinlich durch die Omnipräsenz der Todesmotive - etwas in der Phantasie des Zusehers aus, das so stark ist, daß in zahllosen Kritiken und Stellungnahmen von weitaus detaillierteren Vorgängen die Rede ist, als eine nüchterne Analyse zeigen würde.

An dieser geschickten Balance zwischen Wahrnehmen und Erahnen zeigt sich das filmische Können von Tobe Hooper, der seine Zuseher bis zum hysterischen Höhepunkt nicht mehr aus den Fingern läßt. Weil Hooper gerne als Filmemacher dargestellt wird, der seinen stärksten Film gleich zu Beginn drehte (auch wenn er vorher den gänzlich obskuren Spielfilm EGGSHELLS sowie einige Kurzfilme inszenierte) und sich dann in Belanglosigkeiten und Trash verlor, wird ihm dieses Talent gerne abgesprochen - aber selbst, wenn alle seine anderen Filme völlig reizlos wären (was sie nicht sind!), hätte er mit dem TEXAS CHAIN SAW MASSACRE einen Wurf gelandet, wie er nur wenig anderen Regisseuren vergönnt ist: Für einen Film, der zu den stilistisch einflußreichsten seines Genres gehört, Dekaden später noch Menschen fasziniert und sogar im Museum of Modern Art zu finden ist, hat der Mann so oder so ein großes Maß an Respekt verdient.


Wenig Respekt erfuhr der Film indes nicht nur seitens der seriösen Kritiker - Roger Ebert beispielsweise lobt zwar das handwerkliche Geschick, scheint sich aber vom Film selbst eher distanzieren zu wollen: "[...] an effective production in the service of an unneccessary movie", schreibt er in seinem Review, das mit Anmerkungen wie "I can't imagine why anyone would want to make a movie like this" gespickt ist - sondern auch aus Richtung der Zensur: In England beispielsweise wurde der Film jahrzehntelang gar nicht veröffentlicht (BBFC-Leiter James Ferman bezeichnete den Streifen als "pornography of terror"), in Deutschland wurde er wegen angeblicher Gewaltverherrlichung beschlagnahmt. Selbst heute, wo der Film als veritabler Klassiker und auch als Kunstwerk Anerkennung findet, war es für das Label Turbine ein jahrelanger Kampf, eine Freigabe für BLUTGERICHT IN TEXAS (so der deutsche Titel) zu erwirken - ein Kampf, der in der DVD/BluRay-Box genau dokumentiert ist und durchblicken läßt, wie sehr sich die Sittenwächter offenbar vor dem erschrocken haben, was sie da zu sehen glaubten.

Dabei ist der Film, wenn man die späteren Werke von Tobe Hooper kennt, gar nicht mehr so biestig ernst, wie es vielleicht anfangs den Anschein hatte. Die absurden Überzeichnungen, die in seinen späteren Filmen so viel stärker durchblitzen und zum Beispiel in der 1986 erschienenen Fortsetzung THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE 2 weitestgehend die Oberhand gewinnen, sind auch hier schon angelegt: Beispielsweise die Sequenz, in der die Familie ihren steinalten Großvater ins Eßzimmer tragen und der fast mummifiziert wirkende Mann am aufgeschnittenen Finger der Hauptdarstellerin lutscht, als könnte er sich mit den paar Tropfen Lebenselixir ein paar weitere Tage erkaufen. Nicht minder schwarzhumorig die folgende Szene, in der der alte Mann die junge Frau mit einem Hammer schlachten soll - ganz so, wie er es vor vielen Jahren mit den Rindern gemacht hat. Weil er schon viel zu schwach ist, den Hammer wirklich zu halten, wird ihm immer wieder geduldig das Mordinstrument zurück in die Hand gegeben, während darüber schwadroniert wird, daß Großvater der Beste in seinem Beruf sei. In diesem Sinne ist THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE ein wenig mit Sam Raimis THE EVIL DEAD vergleichbar, der auch prinzipiell den intensiven Terror zelebriert, aber vor allem unter Berücksichtigung des späteren Filmschaffens einen bösen Sinn für Humor offenbart.


THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE ist der beste Beweis für die alte Weisheit, daß es nicht wichtig ist, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird. Hunderte von Filmen haben sich an der Prämisse der Freundesgruppe probiert, die fernab der Zivilisation auf schreckliche Ereignisse stoßen. Hunderte von Filmen haben das Motiv der wahnsinnigen, degenerierten Familie verwendet, deren Alltag aus Mord und anderen Unappetitlichkeiten besteht. Und hunderte von Filmen haben versucht, ähnlichen Extremen Raum zu geben und in Abgründe hineinzublicken. Tobe Hooper schafft es, aus all diesen Elementen nicht nur etwas zusammenzufügen, das eine enorme Wirkung entfaltet, sondern darüber hinaus noch mehr ist als die Summe seiner Teile. Der wahre Schrecken existiert selbst bei einem so gar nicht subtil wirkenden Film im Kopf, und das noch lange nach dem Abspann. Vielleicht liegt der Horror in diesem Fall nicht darin, daß dem Zuseher so unnachgiebig eine Welt gezeigt wird, in der man nie leben möchte - sondern in dem Verdacht, daß diese Welt viel näher ist, als es einem lieb sein kann.




Blutgericht in Texas (USA 1974)
Originaltitel: The Texas Chain Saw Massacre / The Texas Chainsaw Massacre
Regie: Tobe Hooper
Drehbuch: Kim Henkel, Tobe Hooper
Kamera: Daniel Pearl
Musik: Wayne Bell, Tobe Hooper
Darsteller: Marilyn Burns, Allen Danziger, Paul A. Partain, William Vail, Teri McMinn, Edwin Neal, Jim Siedow, Gunnar Hansen

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[Diverses] Infotext über Wilsons Dachboden online

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Nach nur knapp 8½ Jahren - ja, so lange existiert Wilsons Dachboden schon - habe ich es endlich geschafft, einen Infotext über die Seite online zu stellen. Zugegebenermaßen habe ich aber nicht die gesamte Zeit daran gearbeitet ... Wer endlich mal wissen will, worum es hier geht (oder jetzt erst als Gast zum Dachboden hinzustößt), findet hier die knallharten Fakten: Über Wilsons Dachboden.

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[Film] Close-Up: Blutgericht in Texas

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Nachdem ich vor einigen Tagen über Tobe Hoopers BLUTGERICHT IN TEXAS (im Original: THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE) geschrieben und über die Balance zwischen Sehen und Erahnen geredet habe, die die Phantasie des Zusehers so weit anregt, daß man glaubt, grausame Bilder serviert bekommen zu haben, will ich mal eine Sequenz genauer unter die Lupe nehmen. Es handelt sich dabei um den Mord an dem Rollstuhlfahrer Franklin, der kurz nach Minute 50:00 geschieht. Die Szene zeigt, wie einfach, aber durchdacht Regisseur Tobe Hooper und sein Kameramann Daniel Pearl hier gleichzeitig etwas zeigen und verbergen.

Zu diesem Zeitpunkt des Films wurden bereits drei der fünf Freunde von Leatherface erledigt - wir wissen also schon, wie das mordende Ungetüm aussieht, und ahnen, daß beim nächtlichen Streifzug durch das Unterholz Gefahr droht. Die Szene läßt Franklin und seine Schwester Sally eine ganze Zeitlang durch das Geäst irren, mit stetigen Rufen nach ihren verlorengegangenen Freunden - und natürlich hilft es, daß die Bilder allesamt höchst finster gehalten sind und nur die Taschenlampe dem Zuseher erlaubt, hier und da etwas zu sehen.

(Jeder Screenshot ist eine Einstellung - außer, wenn zwei Screenshots direkt untereinanderstehen, dann zeigt das zweite Bild das Ende derselben Einstellung.)


Nach einiger Suche hört Franklin etwas. Er schwenkt seine Taschenlampe herum und wird von Sally weiter nach links geschoben.


In einer näheren Einstellung schwenkt Franklin die Taschenlampe Richtung Kamera, so daß wir nur den Schein und seine Silhouette sehen. Kurz vor dem Schnitt bewegt sich die Kamera noch weiter auf ihn zu ...



... und Leatherface kommt plötzlich aus dem Dunkeln auf ihn zu - beziehungsweise direkt auf uns, weil die Einstellung als POV durchgeht. Leatherface reißt die Kettensäge nach oben, das zittrige Licht der Taschenlampe läßt uns kurz sein Gesicht sehen. Gefühlsmäßig kommt er uns im Frame viel zu nahe.



Die nächste Einstellung ist ein Over-the-Shoulder-Shot hinter Franklin, der nur als Silhouette angedeutet wird. Leatherface bewegt die Kettensäge nach unten, Franklin schreit. Wie uns der zweite Screenshot vom Ende der Einstellung zeigt, wird das Zersägen des Körpers durch die Perspektive komplett verdeckt - nur die Schreie und Franklins Gezappel zeigen uns, was passiert.


Es wird auf eine Einstellung hinter Leatherface umgeschnitten, in der noch weniger zu sehen ist. Der Kegel der Taschenlampe zittert umher, der Körper von Leatherface bewegt sich ein wenig vor und zurück, ansonsten ist nichts wirklich zu sehen.


Jetzt erst kommt ein Reaction Shot von Sally, die die Arme hochreißt und schreit. Man beachte, daß Franklin keine Reaktion und auch sonst keine Nahaufnahme bekommt - es geht beim Tod dieser (ohnehin vorab etwas unsympathisch gezeichneten) Figur primär um den Terror, den das Gesehene bei unserer Hauptfigur auslöst.


Wieder der Over-the-Shoulder-Shot, in dem Leatherface zu einem Stoß mit der Kettensäge ansetzt ...



... und mit dem Stoß wird zu einer etwas engeren Einstellung aus derselben Perspektive geschnitten. Es paßt zur Stoßbewegung, und der Zuseher wird näher an das grausame Geschehen herangebracht - auch wenn, wie die oberen Screenshots zeigen, auch hier wieder keinerlei Wunde zu sehen ist und die Kettensäge am Ende der Einstellung sogar schon ganz verdeckt ist. Etwas Blut spritzt auf die Kleidung von Leatherface.


Wieder eine Einstellung auf die panische Sally - diesmal aber mit einer Andeutung des Geschehens im Vordergrund: Links wackelt die Taschenlampe durch das Bild, rechts ist teilweise der Arm von Leatherface mit der Kettensäge zu sehen.



Es folgt eine Einstellung auf Leatherface, der noch einmal mit der Kettensäge ausholt und damit eine Bewegung nach vorne macht. Das, was er damit zersägt (Franklins Körper), ist in dieser Einstellung fast gar nicht zu sehen, weil die Kettensäge ganz knapp am unteren Bildrand entlanggleitet - man sieht nur in den letzten Frames eine leichte schwarze Silhouette.


Noch eine Einstellung von hinten, diesmal von der anderen Seite und mit etwas mehr Distanz als der vorige Over-the-Shoulder-Shot. Leatherface hält die Säge nach oben und läßt sie dann in Richtung von Franklins Kopf niedergehen. Franklin ist auch hier nur schwer zu sehen - in ein paar Momenten sehen wir seine Umrisse im herumwackelnden Licht.


Statt der Wunde sehen wir die neben dem Rollstuhl herunterfallende Taschenlampe.


Noch einmal ein Reaction Shot von Sally - dieselbe Einstellung wie vorhin.


Ein letztes Mal sehen wir Leatherface mit der Kettensäge zustoßen - in einer Einstellung ähnlich der vorhin schon verwendeten Gegenrichtung, aber mit etwas mehr Distanz. Man sieht den Stoß mit der Säge, aber recht viel mehr ist nicht auszumachen.


Sally schreit, dreht sich um und läuft nach hinten fort.


Ihre Flucht beginnt mit einer nahen seitlichen Einstellung, die ihr mit Bewegung nach rechts durch das Unterholz folgt.

Es ist im Detail betrachtet schon bemerkenswert, wie wenig tatsächlich in der Sequenz zu sehen ist - nicht nur, was Blut und Wunden angeht, sondern auch, was das tatsächliche Geschehen betrifft: Es sind Bewegungen und Angriffsrichtungen wahrzunehmen, aber viel mehr eigentlich nicht. Den unglückseligen Franklin sehen wir nur als Umriß, Sally und Leatherface in ein paar wenigen Nahaufnahmen. Und doch läßt uns die Sequenz - die insgesamt ca. 17 Sekunden dauert - einem grausamen Mord auf eine Art und Weise beiwohnen, die unter die Haut geht. Die Szene ist in der Tat vergleichbar mit der berüchtigten Duschszene aus Alfred Hitchcocks PSYCHO, die bei genauer Analyse ebenso zeigt, wie Bilder, die nichts Explizites an sich haben, eine immens suggestive Kraft entwickeln können (siehe diese Website).

Zwei bereits angesprochene Entscheidungen finde ich höchst bemerkenswert: Einerseits der Moment, wo Leatherface auftaucht und direkt auf uns, den Zuseher, zurennt - nirgendwo sonst in der Szene gibt es auch nur annähernd einen POV-Shot, aber diese Einstellung verstärkt den Schockeffekt um einiges (zumal Leatherface auch fast zu nahe an die Kamera herantritt). Sehr schön dabei auch, wie dieses "Hervorspringen" des Killers im vorigen Shot mit einer leichten Heranfahrt in den letzten paar Frames schon angedeutet wird. Der andere Kniff ist der plötzliche Schnitt auf die engere, aber sonst identische Einstellung, wenn Leatherface mit der Kettensäge zusticht - es suggeriert irgendwie, daß wir näher ans Geschehen kommen und mehr sehen werden, auch wenn der Shot tatsächlich exakt so viel verdeckt wie der vorige.


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[Film] Close-Up: Blutgericht in Texas (Teil 2)

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Im ersten Close-Up zu Tobe Hoopers TEXAS CHAIN SAW MASSACRE haben wir uns die Sequenz angesehen, in der Leatherface den im Rollstuhl sitzenden Franklin angreift. Heute will ich mir noch eine andere Szene vorknöpfen, die wahrscheinlich zu den intensivsten des Films gehört - und daher auch zu denen, an die man sich lange erinnert. Auch hier zeigt die genaue Betrachtung der einzelnen Einstellungen, daß der Film weitaus mehr suggeriert als zeigt - was letztlich umso effektiver ist.

Die Szene, in der Pam von Leatherface in die "Speisekammer" des Hauses gezerrt wird, wird lange vorbereitet: Zuvor haben wir schon ihren Freund Kirk in das Haus gehen sehen und haben miterlebt, wie er vom plötzlich auftauchenden Leatherface mit einem Hammer erschlagen und weggezerrt wurde. Pam begibt sich also ebenfalls ins Haus, um ihren Freund zu suchen, und findet dort einen bizarren Raum voller Dreck, Hühnerfedern, Knochen und daraus gebauten Möbeln - eine Sequenz, die ebenfalls eine nähere Betrachtung wert wäre, und sei es nur, um die fantastische Ausstattung von Robert A. Burns zu bewundern. Panisch versucht Pam, aus dem Haus zu fliehen - und wird von Leatherface geschnappt. Diese Sequenz beginnt auf der DVD ca. bei Minute 37:40:

(Ein kommentiertes Bild entspricht einer Einstellung - wenn zwei Bilder direkt untereinander gezeigt werden, zeigen beide verschiedene Momente derselben Einstellung.)


Pam schafft es sogar kurz aus dem Haus heraus, wird aber noch bei der Tür von Leatherface geschnappt und wieder hineingezerrt.


In einer Halbnahen fährt die Kamera vor den beiden zurück, während Leatherface Pam hineinträgt.


Der Vorgang geht in einer statischen Totalen weiter. Hinter den beiden fällt die mit Fliegengitter bespannte äußere Tür zu.


Die Kamera bewegt sich schräg seitlich mit den beiden mit. Pam versucht sich erfolglos zu wehren. Durch die sparsame Beleuchtung fällt sie, wie schon in den vorigen beiden Einstellungen, immer wieder aus dem Licht heraus und ist nur als Schatten zu sehen.


Die Kamera bewegt sich vor Leatherface zurück, der ebenfalls mehr im Schatten zu sehen ist.


In einer Totalen wird Pam durch die Tür getragen, aus der Leatherface gekommen ist  (und aus der wir ihn schon zuvor haben kommen sehen, als er Kirk angegriffen hat). Man beachte, wie die an der Wand hängenden Felle die Proportionen im Bild verändern - das Haus wirkt dadurch viel größer (was durch die rechts im Bild nach oben führende Treppe gefühlsmäßig noch verstärkt wird).



Der groß im Vordergrund prangende Fleischerhaken läßt uns Pams Schicksal schon im Vorfeld erahnen. Leatherface zerrt sie aus dem Dunkel heraus in Richtung des Hakens.



Jetzt befinden wir uns hinter Leatherface. Pam ist kurz zu sehen, wie sie nach links auszubrechen versucht. Leatherface trägt sie bis zum Haken und hebt sie dann hoch.


Für einen kurzen Moment wird nochmal zu der vorigen Einstellung zurückgeschnitten. Das Bild des Hakens und der direkt davor befindliche nackte Rücken von Pam schaffen eine sehr schmerzhafte Erwartungshaltung.


Leatherface hängt Pam auf den Haken; sie bewegt sich mit einem Ruck ein kurzes Stück nach unten. Man beachte, daß keinerlei Wunde oder Einstich zu sehen ist - der wird durch die Bewegung und durch das zuvor nochmal hineingeschnittene Bild des Hakens hinreichend suggeriert. Im Vordergrund sehen wir einen liegenden Körper - vermutlich Kirk.



Pam schreit und versucht hilflos, nach oben an den Haken zu greifen, an dem sie hängt. Das hinter ihr an der Wand befindliche Blut dürfte übrigens nicht ihres sein - es ist auch schon in der vorigen Einstellung zu sehen, daß die Wand Blutflecken hat. Dennoch wirkt dieses Detail der grausigen Vorstellung weiter auf die Sprünge.


In der zuvor schon verwendeten Einstellung kümmert sich Leatherface um den im Vordergrund liegenden Körper, bevor er nach links in Richtung des Fensters geht.



Leatherface ist zuerst von hinten mittig im Bild zu sehen, bewegt sich dann nach links und wirft eine Art Gabel in die Spüle. Dann nimmt er die daneben liegende Kettensäge und wirft sie an. Die Kamera zoomt dabei langsam auf die Kettensäge - auch das lenkt unsere Gedanken weiter in die "richtige" Richtung.



Die einzige Einstellung, in der tatsächlich zu sehen ist, daß Pam in der Luft hängt: Zuerst wird ein Eimer unter ihr gezeigt, über dem ihre Füße baumeln, dann schwenkt die Kamera nach oben und zeigt, wie sie weiter versucht, sich zu befreien. (Der "Schwebeeffekt" wurde mit einer an den Oberschenkeln und dem Rücken befindlichen Vorrichtung erzielt.)



Leatherface hebt die Kettensäge hoch, hält sie wieder nach unten, dann wieder hoch. Er dreht sich und macht sich mit der Säge an dem (hier nicht sichtbaren) Körper zu schaffen. Die Kamera zoomt auf sein Gesicht - das durch das Gegenlicht fast vollständig im Schatten liegt.


Leatherface sägt an dem Körper - aber davon ist eigentlich nichts zu sehen. Der Kopf, den er hier wohl abtrennt, ist gar nicht zu sehen, und die Kettensäge ist auch größtenteils durch die Kameraperspektive (und den davor stehenden Fleischwolf) verdeckt. 



Nochmal die Einstellung auf Leatherface, der kurz innehält, die Säge hochhält, und sich dann wieder herunterbeugt und weitermacht. Wieder wird auf sein Gesicht gezoomt, diesmal noch näher heran, und wieder befindet es sich großteils im Schatten.



Während Leatherface weitersägt, zoomt die Kamera an die schreiende Pam heran. Irgendwann geht Leatherface vor ihr durchs Bild nach rechts, um von dort aus weiterzuarbeiten.


Was weiter passiert, bleibt unserer Phantasie überlassen: Die Szene hört hier auf, es wird auf ein am Dach des Hauses befindliches Windrad geschnitten. (Lucio Fulci würde nach so einem Schnitt, der den Zuseher üblicherweise aufatmen läßt, wieder zurück zur Szene schneiden und dann zu den wirklichen Grausamkeiten kommen.)

Ja, der Inhalt der Szene ist brutal und verstörend - aber die Bild-für-Bild-Analyse zeigt, daß auch hier Hooper keinesfalls diese Gewalttätigkeiten ausweidet, sondern ganz im Gegenteil die Phantasie des Zusehers nutzt. Im Grunde genommen ist fast nichts zu sehen - und doch wohnen wir einem absoluten Albtraum bei. Die Sequenz dauert übrigens ungefähr 65 Sekunden - also knapp über eine Minute. Das ist nicht sehr lang - aber lang genug, um das Gefühl zu kriegen, daß uns der Film die Brutalitäten nicht ersparen wird.

Lernen kann man hier hauptsächlich von dem Moment mit dem Fleischerhaken: die Ankündigung durch das vorne im Bild plazierte Objekt, der extrem einfache Effekt (der eigentlich nur über die Ruckbewegung und das Schreien verkauft wird) - und natürlich die kurz vor dem Einstich noch einmal hineingeschnittene Einstellung mit dem Haken, die im Kopf die Wunde gleich mit produziert.

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[Film] Der grosse Gatsby (2013)

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F. Scott Fitzgeralds 1925 veröffentlichter Roman THE GREAT GATSBY ist nicht umsonst ein Klassiker der amerikanischen Literatur: Das Buch fängt in bemerkenswerter sprachlicher Eleganz eine Ära ein, in der umso ausgelassener gefeiert wurde, je schlechter es den Menschen ging. Es zeichnet ein düsteres Bild des amerikanischen Traums - die Titelfigur, der Millionär Jay Gatsby, hat sich von Armut zu Reichtum hochgearbeitet, aber es stellt sich heraus, daß er dabei eigentlich nur eine Rolle spielt und sein Geld zwielichtigen Geschäften zu verdanken hat. Und im Kern ist THE GREAT GATSBY die tragische Geschichte eines einsamen Menschen, der mit all seinem Besitz tausende von Menschen um sich versammeln kann und doch ganz und gar alleine bleibt.

Regisseur Baz Luhrmann sieht das wohl anders: Für ihn ist THE GREAT GATSBY eine der ergreifendsten Liebestragödien aller Zeiten. Es kann nicht behauptet werden, daß diese Lesart nichts mit der Geschichte zu tun hätte - die Handlung des Romans dreht sich größtenteils darum, daß der immens reiche Gatsby über Jahre hinweg prunkvolle Feste organisiert, weil er hofft, daß seine verlorengegangene Liebe Daisy Buchanan auf einer dieser Feiern auftaucht. Daisy lebt sogar ganz in der Nähe - aber hat vor vielen Jahren, nachdem Gatsby in den Krieg ziehen mußte, jemand anderen geheiratet. Die Dreiecksbeziehung ist also durchaus ein substantieller Teil der Geschichte - aber gleichzeitig auch die oberflächlichste Ebene, und Luhrmann schaut in seiner seichten Interpretation kaum unter die offensichtlichen Gegebenheiten.


Luhrmanns Blick auf THE GREAT GATSBY ist hemmungsloser Pomp: knallige Bonbonfarben, atemlose Kameraakrobatik, Showeinlagen, Rückblenden im Weichzeichner, schimmerndes Licht auf dem Wasser, großes Orchester, durchs Bild rieselnde Buchstaben des Erzählers, Ragtime mit Hip-Hop-Beats, knapp zweieinhalb Stunden Lauflänge und ein Gatsby-Anwesen, das wie ein Eurodisney-Event wirkt. Es ist der pure Kitsch.

Dabei könnte die mondäne Üppigkeit der Inszenierung ja eigentlich zur dargestellten Ära des Jazz Age passen, in der Ausschweifungen an der Tagesordnung waren und Mode wie Musik auffälliger nicht hätten sein können. Dazu müßte dieser dargestellten Ausstattungsgewalt aber ein Interesse innewohnen, darüber eben jenen Zeitgeist einzufangen, oder das Wissen um die Diskrepanz zwischen dem zur Schau gestellten Lebensgefühl und der innerlichen Leere der Hauptfigur durchscheinen. Fehlanzeige: Der Prunk stellt sich hier nur selber dar. Und das natürlich technisch perfekt.


Daß die Story tiefer graben könnte und das beeindruckende Ensemble - Leonardo DiCaprio, Tobey Maguire, Carey Mulligan, Joel Edgerton - aus ihren Figuren interessante Konflikte herausarbeiten kann, zeigt vor allem eine Szene in einem Hotelzimmer, in der das Dreiecksverhältnis ans Tageslicht kommt. Für ein paar Minuten merkt man, was für ein reichhaltiges Drama hier eigentlich vorliegen würde: Ganz plötzlich betrachtet die Kamera ohne viel Spielereien einfach nur den sich entfaltenden Moment, und Luhrmann verzichtet sogar auf die ansonsten pausenlos eingesetzte Musik.

Es ist einer der wenigen Augenblicke im Film, in der die Figuren irgendwie echt wirken - ansonsten ist Luhrmann kaum an der Menschlichkeit seiner Charaktere interessiert. Fast bezeichnend fällt die Sequenz zum Schluß mit dickem Orchester wieder zurück in den gewohnten Erzählstil, und schon bald darf Gatsby zu schwerster Musik als letztes Wort den Namen seiner Geliebten hauchen und in Zeitlupe mit immens nachbearbeiteten blauen Augen angeschossen in seinen Pool fallen. Es könnte ja sonst jemand verpassen, daß etwas Tragisches passiert. (Ja, ich habe jetzt den Schluß verraten. Abgesehen davon, daß ich keine wahnsinnige "Spoiler"-Allergie habe, denke ich, daß man über 88 Jahre alte Stories durchaus allumfassend reden kann.)


Bei all der Bilderflut sollte man meinen, daß der Film die Geschichte zumindest visuell interessant dramatisiert. Auch das ist leider nicht der Fall: Um die gewichtigen Worte von F. Scott Fitzgerald einbauen zu können, ist der Film als gigantische Rückblende erzählt, bei der der Protagonist Nick Carraway seine Geschichte einem Therapeuten erzählt bzw. sie zu diesem Zwecke niederschreibt. Ein ums andere Mal ist über die Szenen also Nicks Erzählstimme gelegt, die uns entweder erklärt, was wir eigentlich selber aus dem Moment herauslesen sollten ("Die Art, wie er sprach - kein Wunder, daß die Leute ihn für einen Lügner hielten!"), oder was wir ohnehin auf der Leinwand sehen ("Er schien nach etwas zu greifen, das dort in der Dunkelheit war"). Mitunter dienen diese Worte wirklich als Krücke - daß zu Gatsbys Beerdigung kein Mensch erscheint, wird hier dadurch verwässert, daß man zuerst haufenweise Reporter um den Sarg herumschwirren sieht, die dann von Carraway weggescheucht werden; danach erzählt uns das Voice-Over, daß niemand kam. Eigentlich bizarr, daß eine so auf das Sehen konzentrierte Inszenierung sich letztlich doch so sehr auf das Wort stützen muß.

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die Werktreue verlangen oder in permanenten Vergleichen Buch und Film gegenüberstellen, um sich über Änderungen zu echauffieren: Die beiden Medien funktionieren grundlegend anders, und eigentlich begrüße ich sogar künstlerische Freiheiten, weil das Werk für sich genommen funktionieren muß und nicht als Bebilderung oder Beschreibung einer Vorlage. Im Falle des GREAT GATSBY schält eine grundsätzliche Differenz zwischen Film und Buch aber auch das Problem des ersteren klarer heraus: Nichts von der Theatralik und dem Protz der Verfilmung ist in Fitzgeralds subtiler, auf leise Art wehmütiger Erzählung zu finden. Die spannenden Dinge passieren dort zwischen den Zeilen - ein Ort, von dem der Film allem Anschein nach nicht mal weiß, daß er existiert.




Der grosse Gatsby (Australien/USA 2013)
Originaltitel: The Great Gatsby
Regie: Baz Luhrmann
Buch: Baz Luhrmann, Craig Pearce, nach dem Roman von F. Scott Fitzgerald
Kamera: Simon Duggan
Musik: Craig Armstrong
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Tobey Maguire, Carey Mulligan, Joel Edgerton, Elizabeth Debicki, Isla Fisher, Jason Clarke
FSK: 12

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[Film] Das Grauen (1980)

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Ich habe mal in einem Spukhaus gewohnt. Nein, eigentlich war es kein richtiges Spukhaus - nur ein altes, dezent unheimliches Haus, das einem beständig das Gefühl gab, daß es eine Geschichte dahinter gäbe. Aber schon die Geräusche, die das Anwesen von sich gab - wie das alte Häuser nun einmal so tun - haben die Phantasie gehörig auf Touren gebracht: Ständig hat irgendwo etwas geknackt, und im unbewohnten zweiten Stock hat gerne mal eine Tür von alleine geknirscht. Die Treppe hat gerne dumpfe Geräusche von sich gegeben - und wenn man die Stufen der Reihe nach hört, knarz-knarz-knarz, als würde jemand hinaufgehen, dann rächen sich sämtliche Gruselfilme, die man in zu jungen Jahren gesehen hat. Manchmal hörte man es auf dem Gang flattern - dann hatte sich wieder eine Fledermaus vom Dachboden her nach unten verirrt.

Ich glaube nicht an Geister oder sonstigen übernatürlichen Spuk. Falls Menschen nach ihrem Tod in irgendeiner Form weiter existieren, haben sie wahrscheinlich Besseres zu tun, als uns tagein, tagaus zu beobachten und mit Gepolter zu erschrecken - die Vorstellung hat etwas sehr Diesseits-Bezogenes an sich und entspringt wohl dem grundlegenden Wunsch, daß das Ableben keinen endgültigen Schlußpunkt darstellt. Ich glaube also nicht wirklich daran, daß in dem erwähnten Haus etwas Merkwürdiges vor sich ging - aber merkwürdig fühlte man sich in dem alten Gemäuer trotzdem. Keine Ahnung, wie viele Menschen vor uns darin gelebt hatten - auf den Speichern standen noch verstaubte Kisten und alte Möbel, aber der obere Stock war mir zu unheimlich. Unsere Katze verhielt sich in dem Haus überaus ängstlich und schreckhaft. Meine Mutter hat offenbar einmal geträumt, daß sich im oberen Stock jemand erhängt habe. Und mein Vater will eines Abends eine "weiße Frau" den Gang entlanggleiten gesehen haben. Die beiden glauben ebensowenig an Spuk. Aber was hilft es, wenn ein Ort einen gewissen psychologischen Effekt auf einen ausübt?


Der Horror-Geheimtip THE CHANGELING aus dem Jahr 1980 spielt an exakt so einem Ort - in einem großen alten Haus, das mich stark an unser eigenes (viel kleineres) "Spukhaus" erinnert. Der Komponist John Russell (George C. Scott) mietet dieses seit Jahren leerstehende Anwesen nach dem Unfalltod seiner Frau und seiner Tochter, um über den Verlust wegkommen und wieder arbeiten zu können. In dem imposanten Haus läßt ihn aber eine Präsenz nicht zur Ruhe kommen - schon bald wacht John beispielsweise jeden Morgen um sechs Uhr früh auf, weil hartes, rhythmisches Hämmern durch das Gebäude hallt. Bei seinen Nachforschungen findet John ein verborgenes Zimmer im Dachboden, das seit 70 Jahren leer steht, und deckt nach und nach die traurige Geschichte des Anwesens auf.

Es ist eine klassische Geistergeschichte, die sich hier entspinnt: Eine Seele kommt wegen des ihr zugefügten Unrechts nicht zur Ruhe und ist daher an den Ort ihres Todes gebunden, wo sie versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Wie der in Ungarn geborene Regisseur Peter Medak diesen Spuk erzählt, ist meisterlich: Es sind zunächst nur Kleinigkeiten, die geschehen - das Hämmern, eine von alleine aufgehende Tür. Bis ganz zum Schluß ist der Film sehr suggestiv und mit Augenmerk auf die Stimmung erzählt - was die Gruselmomente umso stärker unter die Haut gehen läßt: Die kurze Sekunde, in der der Geist zuerst sichtbar ist, jagt mir selbst nach dem zigsten Ansehen einen Schrecken ein, und die Szene, in der der Spielball, der eigentlich Johns verstorbener Tochter gehörte, plötzlich vom oberen Stockwerk aus die Treppe heruntergesprungen kommt, produziert immense Gänsehaut.


Der Hauptgrund, warum die so einfach gehaltenen und ohne aufwendige Effekte erzählten Spukmomente so prächtig funktionieren, ist die Kameraführung: Medak und sein Kameramann John Coquillon kriechen in langsamen Fahrten durch das Anwesen (das so echt aussieht, daß man nicht glauben mag, daß es sich um ein Set handelt) und positionieren ihre Kamera immer wieder so, als würden die Figuren beobachtet werden - wir blicken vom ersten Stock aus nach unten oder von einem Zimmer ins andere, als würde da eine unsichtbare Person der Handlung folgen. Das zieht einen derart in das Mysterium des Hauses hinein, daß man in den letzten zehn Minuten beinahe enttäuscht ist, wenn plötzlich ein paar Special Effects aufgefahren werden.

Was THE CHANGELING - der im Deutschen den weitaus plakativeren Titel DAS GRAUEN bekommen hat, nachdem sich der Originaltitel erst spät in der Handlung erklärt - neben der Unheimlichkeit des Unerklärten auszeichnet, die so gekonnt ausgekostet wird, ist der tragische Grundton der Geschichte. Es ist auf merkwürdige Weise passend, daß John den Tod seiner Familie darüber verarbeitet, daß er sich mit dem Geist eines Verstorbenen auseinandersetzt und ihm helfen will, zur Ruhe zu kommen. Die herbstlich-erdige Farbpalette und die oft schwermütige Klaviermusik spielen in diese Traurigkeit hinein.


Es wird mancherorts angemerkt, daß John viel zu gefaßt bleibt, was die ganzen übernatürlichen Erscheinungen angeht, und daß der oft stoisch und kontrolliert wirkende Schauspieltitan George C. Scott in der Rolle fehlbesetzt sei. Aber abgesehen davon, daß es mal ganz erfrischend ist, wenn im Horrorfilm nicht gleich die Hysterie hochgefahren wird, ist Scotts Darstellung von John durchaus passend: Erstens packt ihn die Neugier, mehr über die Geschehnisse herauszufinden. Zweitens ist er unter der ruhigen Oberfläche durchaus aufgewühlt: An einer Stelle zum Beispiel sehen wir, wie ihn das gespenstische Hämmern nicht aus dem Schlaf reißt - sondern daß er weinend im Bett lag und aus Trauer um seine Familie ohnehin nicht schlafen konnte. Und drittens spürt er wohl, daß er eine gewisse Empfänglichkeit für die Vorgänge hat, die nicht unbedingt bedrohlich sind: Versucht der Geist vielleicht, mit John Kontakt aufzunehmen, weil der durch den Verlust seiner Familie eine emotionale Verbindung zu dem im Haus geschehenen Unrecht hat? So gesehen haben die unheimlichen Zeichen ja auch etwas Tröstliches: Sie deuten an, daß es etwas nach dem Tod geben muß.

So traut sich John um einiges mehr, als man es selbst in der Situation tun würde - wo er merkwürdigen Geräuschen gezielt nachspürt und sich von einer Geistererscheinung nicht abschrecken läßt, wäre unsereins wohl schon längst ausgezogen. Ich wäre schon unruhig gewesen, wenn ich im zweiten Stock des erwähnten Hauses übernachten hätte müssen; John geht sogar nachts alleine in das geheime Dachbodenzimmer. Von dieser Furchtlosigkeit sollte man sich aber nicht täuschen lassen: THE CHANGELING weiß genau, wie es ist, in einem unheimlichen Haus zu leben - und man muß keine eigene Spukhauserfahrung mitbringen, um sich hier dezent zu fürchten. Und doch: Bei allem Grusel ist es eigentlich eine hoffnungsvolle Vorstellung, daß die Tragödien dieser Welt mit Hämmern und Klopfen dafür sorgen, nicht in Vergessenheit zu geraten.




Das Grauen (Kanada 1980)
Originaltitel: The Changeling
Regie: Peter Medak
Buch: Russell Hunter (Story), William Gray, Diana Maddox
Kamera: John Coquillon
Musik: Rick Wilkins, Ken Wannberg
Darsteller: George C. Scott, Trish Van Devere, John Colicos

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[Film] The Great Gatsby (1949)

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Nachdem wir uns vor ein paar Tagen die aktuellste Verfilmung von F. Scott Fitzgeralds meisterlichem Drama DER GROSSE GATSBY angesehen haben, macht es Sinn, sich auch eine frühere Version anzusehen. Das 1925 veröffentlichte Buch wurde schon 1926 zum ersten Mal verfilmt, aber diese Stummfilmversion ist (bis auf einen einminütigen Trailer) verschollen. Der zweite Anlauf stammt aus dem Jahr 1949 - Elliott Nugent inszenierte das Schwarz-Weiß-Drama mit Gangsterfilmstar Alan Ladd als Gatsby, Betty Field als Daisy Buchanan und Macdonald Carey als Nick Carraway. In einer Nebenrolle ist Shelley Winters als Myrtle Wilson zu sehen.

Schon im Text zur Baz-Luhrmann-Verfilmung von 2013 habe ich anklingen lassen, daß ich "Werktreue" für ein problematisches Konzept halte - ein Medium muß nicht einem anderen sklavisch ergeben sein, und künstlerische Freiheiten können Übertragungen erst interessant machen. Im Falle des GREAT GATSBY kommen wir aber wohl nicht umhin, den Film mit der Vorlage zu vergleichen - erstens, weil der Film in der Umsetzung so viele merkwürdige Entscheidungen trifft, und zweitens, weil man sich bei Adaptionen großer Weltliteratur ein wenig schwer tut, besagte Literatur ganz unter den Teppich zu kehren.


Was Paramount aus Fitzgeralds Abgesang auf den amerikanischen Traum gemacht hat, ist auf eine faszinierende Weise bizarr. Alle Bauteile der Geschichte sind vorhanden: Der Millionär Jay Gatsby versucht, seine frühere Liebe Daisy Buchanan zurückzuerobern, die aber mittlerweile jemand anderen geheiratet hat. Wir sehen Gatsbys üppige Feiern, zu denen er seinen neuen Nachbarn Nick Carraway einlädt, weil er über ihn an Daisy heranzukommen versucht. Wir haben Daisys Freundin Jordan Baker, wir haben die Einladung zum Tee, wir haben das Verhältnis, das Daisys Mann mit der Frau eines örtlichen Mechanikers führt. Wir haben die Konfrontation zwischen Gatsby und Daisys Mann, wir haben die dann folgende Tragödie. Wir haben sogar diverse Konversationen, die dem Buch entnommen wurden. Und doch sind alle diese Bestandteile in einer Weise zusammengefügt, die meilenweit von Fitzgeralds Geschichte entfernt ist.

Es fängt dabei an, daß es in dieser Version kein Mysterium um Gatsbys Person gibt: Wir erfahren schon gleich zu Beginn, daß er seinen Reichtum dem Alkoholschmuggel und anderen zwielichtigen Geschäften zu verdanken hat. Wir erfahren flott in einer Rückblende, wie aus dem brotlosen James Gatz der wohlhabende Jay Gatsby wurde. Und wir werden sofort über sein Motiv informiert, daß er die Feste nur gibt, weil er Daisy wiedersehen möchte - und daß er über Nick Kontakt zu ihr sucht. Wir sehen auch, wie er lernt, daß er Wohlstand braucht, um Frauen zu beeindrucken, und wie er dann als Soldat Nachricht erhält, daß seine Daisy anderweitig geheiratet hat, und daraufhin den Entschluß faßt, sich als reicher Gatsby selbst neu zu erfinden.


Überhaupt ist dieser Film sehr damit beschäftigt, mögliche Ambivalenzen und offene Fragen aus dem Weg zu schaffen. Es wird sofort gezeigt, wer am Steuer des Wagens sitzt, der zum Schluß die Frau des Mechanikers überfährt; auch die anderen Figuren erfahren sehr schnell die Wahrheit über dieses Geschehen, was Nick die Gelegenheit zu etwas moralischer Entrüstung gibt, ihm aber den in der Vorlage verankerten Zwiespalt nimmt, als einziger die Wahrheit über Gatsbys Integrität zu kennen und sie aber nicht einmal zu Gatsbys posthumer Verteidigung aussprechen zu können, weil er es versprochen hat.

Weil die Adaption klare Linien zwischen Richtig und Falsch zeichnen will, darf sogar Gatsby selbst zum Schluß Einsicht zeigen. Ein wenig rechnet man fast mit der unbekümmerten Naivität, mit der die alte Hollywood-Fassung von MOBY DICK Captain Ahab nach Hause zurückkehren ließ - aber auch wenn Gatsby hier immer noch sein Leben lassen muß, kann er doch vorher eine schöne Rede darüber halten, daß er es leid ist, jemand anderer zu sein, und seinen richtigen Namen reklamieren. Und auch Society-Girl Jordan Baker hat zum Schluß etwas gelernt: Sie taucht bei Gatsbys Beerdigung auf und erklärt reumütig, der Sieg beim zur selben Zeit stattfindenden Golfturnier wäre ihr nicht mehr wichtig erschienen.


So wird Fitzgeralds desillusioniertes Porträt in dieser Filmversion also zu einer moralischen Lehrstunde - aber die Geschichte wehrt sich gegen diese Umgestaltungsmaßnahmen, was zumindest für den Kenner der Vorlage eine gewisse Spannung bedeutet. Das Problem dabei: Eine reichhaltige Erzählung verkümmert hier zum künstlichen Melodram, das sich an allen Ecken und Enden falsch anfühlt - die Entwicklung der Story wirkt im Resultat nur noch obligatorisch vorgegeben, aber nie organisch aus den Figuren und Konflikten heraus entwickelt. Da Nick Carraway hier zum Beispiel Gatsby den Gefallen nicht tun will, Daisy zum Tee einzuladen, und sich höchst empört darüber zeigt, wendet sich Gatsby an Jordan Baker, die das alles einfädelt. Umso merkwürdiger mutet es an, daß Nick Gatsby kurz vor dessen Tod einen freundschaftlichen Besuch abstattet - seine Verteidigung des Mannes, von dem er weiß, daß er nicht am Tod der Frau des Mechanikers schuld ist, geschieht hier jedenfalls aus keiner Loyalität heraus (da es ja auch kein Geheimnis um die Tatsache gibt), sondern wird als moralisch richtiger Standpunkt verkauft. Rückblickend betrachtet ist es kein Wunder, daß Macdonald Carey ständig wie James Stewart im Bild herumsteht.

Das unterscheidet den GATSBY von 1949 von anderen völlig umgebauten Literaturverfilmungen, wie beispielsweise FRÜHSTÜCK BEI TIFFANY: Wo dort jede Version auf ihre Weise funktioniert und interessant ist, kann hier die Filmversion kaum überzeugen. Hinzu kommt, daß das Drama reichlich steif und artifiziell gehalten ist - selbst unter Abzug der Tatsache, daß man damals generell weitaus dramatischer gespielt hat. Alan Ladd ist eine nicht unpassende Besetzung als Gatsby, aber wie das Plakat schon andeutet, wird die Figur hier eher als tougher Gangster verstanden - und selbst solchen Charakteren wird in anderen Filmen mitunter mehr Geheimnis gegönnt. Nicht einmal die Ausstattung, die ja zum Beispiel der Version von 2013 eine zur Zeit passende Üppigkeit verleiht, kann hier überzeugen: Gatsbys Parties wirken wie vornehme Hollywood-Gesellschaftsempfänge, und alles sieht ganz nach 1949 anstelle von 1928 aus.

Jetzt gilt es wohl noch herauszufinden, was es zu den GATSBY-Versionen von 1974 (mit Robert Redford und Mia Farrow) und 2000 (mit Toby Stephens und Mira Sorvino) zu sagen gibt ...



The Great Gatsby (USA 1949)
Regie: Elliott Nugent
Drehbuch: Cyril Hume, Richard Maibaum, nach dem Roman von F. Scott Fitzgerald und dem Bühnenstück von Owen Davis
Darsteller: Alan Ladd, Betty Field, Macdonald Carey, Ruth Hussey, Barry Sullivan, Howard Da Silva, Shelley Winters, Ed Begley, Elisha Cook Jr.

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[Film] Grad Night (1980)

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Der Schulabschluß mitsamt ausufernder Feier gehört zu den Ritualen des Erwachsenwerdens - wobei die Festivitäten ja eher als Maßnahme verstanden werden dürfen, den Reifeprozeß noch ein wenig aufzuschieben. Somit gehört die Abschlußparty auch zu den beständigsten Topoi des Teeniefilms, weil man da ganz nach Interesse entweder etwas über einschneidende Veränderungen im Leben erzählen oder jede Menge betrunkene Jugendliche zeigen kann, die allerlei Unfug treiben - manche Filme schaffen sogar beides. Der reichlich obskure Streifen GRAD NIGHT aus dem Jahr 1980 konzentriert sich auf den Unfug: Die Schule ist aus, Bob trennt sich von seiner Freundin Jenny, Bobs Kumpel Tim verschafft ihm Trost bei einer Prostituierten, und der mit beiden befreundete Gary steht dazu gerne ungelenk im Bild herum. Der übliche Teeniealltag eben. Weil das nicht für Spielfilmlänge reicht, gibt es noch diverse andere Figuren, die sich hauptsächlich dadurch auszeichnen, nicht Tim, Bob oder Gary zu sein.

Und schon im zweiten Absatz habe ich keine Lust mehr, über diesen höllisch faden, amateurhaft inszenierten Schnarchfilm zu reden - weshalb ich jetzt einfach stattdessen von meiner eigenen, vergleichsweise viel aufregenderen Schulabschlußfeier erzähle. Schon beim Abistreich - der so witzig gewesen sein muß, daß er mir entfallen ist - stellten einige Mitschüler sicher, daß man sie auf der Bildungsanstalt schwer vermissen würde: Ein Kollege, dessen Namen wir aus Taktgründen verschweigen, pinkelte dezent alkoholisiert auf den Schulhof, während ein anderer Kollege auf der Toilette gegen die verschlossene Tür einer Kabine polterte und rüpelhafte Äußerungen hineinplärrte - nur um dann festzustellen, daß der werte Herr Direktor höchstselbst Rezipient dieser Pöbeleien war. Es gab so eine Art Weltraumthema - immerhin hatten wir eine (später unfein demolierte) Statue des seinerzeit in unseren Sphären herumkreisenden Kometen Hale-Bopp vor der Schule errichten lassen; so liefen also einige Leute in irgendwas Glitzerndem herum, und ein Freund von mir hatte ganz subversiv ein Spice-Girls-Shirt angezogen, auf dem er das erste "i" durchgestrichen und gegen ein "a" ausgetauscht hatte: Space Girls!


Die offizielle Abiturfeier an der Schule war dann freilich ganz sachlich und ordentlich, überall liefen Krawatten herum mit viel zu jungen Köpfen darüber. Die Damen kriegten einen Blumenstrauß überreicht, die Herren eine Zigarre - unglaublich eigentlich, daß da nicht nur altvordere Geschlechterstereotypen bedient wurden, sondern auch eine komplette Männergeneration zum Tabakmißbrauch angestiftet wurde! In GRAD NIGHT und diversen weiteren einschlägigen Filmen läßt bei der Feier gerne mal jemand die Hüllen fallen, aber ein solches Glück war uns nicht beschieden - dafür durften wir andächtig der Rede unseres Jahrgangsstufenvorzeigeplauderers lauschen, die die Längenausmaße von russischer Weltliteratur annahm und einen dezenten Touch von Wahlkampfrhetorik besaß, obwohl es gar niemanden zu wählen galt. Der Redner arbeitet heute zur Strafe im bayrischen Landtag.

Ja, und am Abend fand dann die ganz und gar ausgelassene Abschlußfeier statt, mit Musik und Tanz und so. Unser hoffnungsfroher Jungpolitiker wurde auf die Bühne gebeten und bekam für seine Bemühungen einen Geschenkkorb überreicht, und für einen kurzen Moment herrschte Spannung im Saal, weil eine weitere Rede zu befürchten war. Ich tanzte - trotz vorheriger Beteuerungen, ich würde das tunlichst bleiben lassen! - einen Song lang mit einem hübschen Mädchen, das es mir überaus angetan hatte, und sie blieb sogar freundlich, nachdem ich ihr dabei ein paar Mal auf die Schuhe gelatscht war. Zum Thema Tanzen paraphrasiere ich ja gerne Florence Foster Jenkins: Die Leute können vielleicht sagen, daß ich nicht tanzen kann, aber sie können nie behaupten, daß ich nicht getanzt hätte! Der Rest des Abends war hochgradig unaufregend. In GRAD NIGHT und all den anderen Abschlußfilmen gibt es ja dann immer noch ein bißchen Sex, aber falls an diesem Abend welcher stattgefunden hat, war ich nicht dazu eingeladen.


Und natürlich war da so eine leise Wehmut, weil ich wußte, daß ein großes Kapitel meines Lebens zu Ende geht. Dabei hatte ich ja keinen blassen Schimmer, welche Höhenflüge noch kommen würden! Hätte ich geahnt, daß ich eines Tages einen Blog unterhalten würde, auf dem ich über Filme wie GRAD NIGHT schreibe, dann ... ja, dann hätte ich mir wohl die Zigarre damals schon todesmutig angezündet und mich in der Gewißheit gesonnt, daß ich die wahren Freuden des Lebens erst noch kennenlernen werde. Zum Beispiel den Moment, in dem ein Film wie GRAD NIGHT zu Ende ist.



Grad Night (USA 1980)
Regie: John Tenorio
Buch: John Tenorio
Kamera: Arledge Armenaki
Musik: Keith Borman, J.D. Reilly
Darsteller: Joe Johnson, Suzanne Fagan, Barry Stoltze, Carolyn Bates, Sam Whipple, Rick Slater, Judy Kain, Richard Reider, Suzanne Bard, Donald Bowes, Cynthia Grace

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[Film] Close-Up: Das Grauen

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In meinem Text über Peter Medaks großartigen Geisterhorror DAS GRAUEN habe ich unter anderem darüber gesprochen, wie Medak zusammen mit seinem Kameramann John Coquillon stets eine gewisse Präsenz im von der Hauptfigur bewohnten Haus suggeriert und dabei die tatsächlichen übernatürlichen Erscheinungen ganz gering hält, aber dafür umso effektiver gestaltet. Schauen wir uns doch mal eine Szene im Detail an - und zwar die im Text erwähnte Sequenz mit dem plötzlichen Auftauchen des Spielballs, der der verstorbenen Tochter unseres Protagonisten gehörte.

(Jedes Bild zeigt eine Einstellung - wenn zwei oder drei Bilder direkt untereinander stehen und dann erst kommentiert werden, zeigen sie eine bewegte Einstellung, also z.B. eine Fahrt oder einen Schwenk.)



Die Sequenz beginnt mit einer Nahaufnahme auf ein Photoalbum, durch das unsere Hauptfigur John (George C. Scott) blättert. Die Kamera zoomt langsam heraus, bis wir über Johns Schulter auf die Bilder sehen. Die einzelnen Photos zeigen Johns verstorbene Frau und Tochter, mit deren Tod er sich noch nicht arrangiert hat. (Scott fügt eine wundervolle kleine Geste hinzu, als er kurz mit den Fingern über eines der Photos streicht - ganz sanft und nicht ganz ausgeführt, aber doch wahrnehmbar.)


Während John blättert, hört er ein dumpfes Klopfen im Haus und blickt auf. Man beachte, wie die niedrige Kameraposition eine gewisse Spannung im Bild erzeugt, und wie die Ränder des Bilds trotz der Lampe ins Dunkle führen - die finsteren Ecken und Ränder regen natürlich immer die Phantasie an.



Die Kamera ist jetzt außerhalb des Zimmers und sehr nah am Boden positioniert - als würde etwas John beobachten. Das Geländer links deutet schon an, woher das rhythmische Geräusch kommt: Offenbar fällt etwas die Treppe herunter. Das tut es auch - und zwar hüpft ein roter Ball ins Bild, der unten langsam ausrollt und vor dem Durchgang zum Zimmer liegenbleibt. John steht auf und geht bis zum Ball, den er dann aufhebt -


- es ist der Ball seiner verstorbenen Tochter, den wir schon zweimal zuvor im Film gesehen haben und somit zuordnen können. In dieser Einstellung können wir einen Blick ins obere Stockwerk erhaschen, aus dem der Ball kam - und auch wenn nichts zu sehen ist und in der Mitte das Bild ohnehin ins Dunkle führt, deutet die Kamera in genau die Richtung, von der wir wissen, daß sich dort etwas (oder jemand) befinden muß.


John blickt die Treppe hoch, und wir sehen in einem POV den Weg zum oberen Stockwerk. Nichts zu sehen - aber die Tatsache, daß alles jenseits der Treppe im Finstern liegt, beruhigt uns keinesfalls.



Die Einstellung von vorhin wird weitergeführt: Nachdem John oben nichts sieht, geht er ins Zimmer zurück - zu der Truhe, in der er den Ball sonst aufbewahrt (wie wir in einer vorigen Szene gesehen haben).


John öffnet die Truhe, aber der Ball ist nicht darin.


Wir stehen kurz neben John, der jetzt überlegt, was er tun könnte - und die Szene schneidet schnell zu ...




... einer Außeneinstellung, in der John mit dem Auto auf einer Brücke hält, aussteigt, und sich dann ans Geländer stellt - die Kamera schwenkt dabei erst mit dem Auto leicht nach rechts, dann mit John nach links zum Geländer. Er zieht den Ball aus der Manteltasche und lehnt sich an das Geländer.


In einer Nahaufnahme sehen wir, wie er den Ball langsam losläßt - keine leichte Entscheidung für ihn, nachdem er den Tod seiner Tochter noch nicht wirklich verarbeitet hat. Man beachte, wie der rote Ball farblich aus den ansonsten in herbstlichen braun-grau-Tönen gehaltenen Bildern heraussticht.


Von unten sehen wir zu John herauf, der dem Ball nachsieht - in einer Einstellung, die, obwohl sie ganz statisch ist und eher auf Höhe des Brückenbodens als auf Höhe des Wassers liegt, so wirkt, als würde ihm jemand von unten zusehen.


In einer Nahaufnahme sehen wir den Ball ins Wasser fallen, kurz untertauchen und dann wieder hochkommen.



Nach schnellem Schnitt kommt John wieder zuhause an. Die Kamera fährt vor ihm her und schwenkt dann mit ihm nach links, von der Eingangstür weg bis zum Treppengeländer, auf das John seinen Mantel hängt. Dann hört er wieder ein Geräusch von oben. Es ist das erste Mal in der Szene - abgesehen vom Herauszoomen am Anfang und dem Schwenk auf der Brücke - daß sich die Kamera wirklich bewegt. Es wird also angedeutet, daß das Wegwerfen des Balls etwas in Bewegung gesetzt hat ...


... und prompt fällt von oben herab der Ball noch einmal die Treppe herunter! Die Perspektive dafür ist jetzt die von John, der Ball kommt also direkt auf uns zu - und wir sehen mit John nach oben, wo alles im Dunkeln verschwindet.


Der nächste Shot ist eine Art Gegenschuß: Wir blicken von oben die Treppe herunter und sehen, wie der Ball zu John kullert. Die Position der Kamera nimmt quasi den Standpunkt der im Haus lebenden Geisterpräsenz ein - auch wenn nichts zu sehen ist, suggeriert die Einstellung stärker als alle anderen, daß sich in den oberen Stockwerken etwas (oder jemand) befindet.


In einer Nahaufnahme weicht John zurück, bis er mit dem Rücken an der Tür steht. Die Kamera bewegt sich dabei nach rechts mit ihm mit bzw. auf ihn zu.


Eine schön dramatische Einstellung - vor allem im Kontrast zu der obigen seitlichen, wo im Vordergrund der Ball lag und John im Hintergrund saß bzw. stand. Hier ist der Ball sehr groß zu sehen und die Kamera blickt aus der Froschperspektive zu John hinauf.


Nochmal eine Nahaufnahme auf John, der mit seiner Furcht kämpft. Die Sequenz endet hier.

Die Szene kann stellvertretend für den ganzen Film gelten: Die stimmigen Farb- und Bildkompositionen ziehen sich durch die gesamte Laufzeit hindurch. Mit ganz einfachen Mitteln und sehr sorgsam komponierten Bildern beschwören Medak und Coquillon stets eine subtil spannende Atmosphäre herauf, in der immer wieder alleine durch den Blickwinkel der Kamera oder das sparsam gesetzte Licht gleichzeitig unsere Neugierde wie auch unsere Phantasie angeregt wird. Und gerade deswegen geht der Film umso stärker unter die Haut als die meisten Effektspektakel.

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[Film] Gravity (2013)

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Man könnte behaupten, daß der zu 99,9% im All spielende Streifen GRAVITY eigentlich gar kein Science-Fiction-Film ist. Vielmehr ist er die Geschichte eines Menschen, der eine schreckliche Katastrophe überlebt und dann, als er sich eigentlich schon aufgegeben hat, wieder die Kraft findet, weiterzukämpfen. Daß es sich bei der Katastrophe um die Zerstörung einer Forschungsstation im Weltraum handelt, ist gewissermaßen Nebensache - GRAVITY ist eine Allegorie über das Leben an sich, über die Hoffnung entgegen jeder Wahrscheinlichkeit.

Völlig nebensächlich ist das Setting von GRAVITY aber natürlich nicht. Die beiden Astronauten Ryan Stone (Sandra Bullock) und Matt Kowalski (George Clooney), die nach einem Hagel von Satellitentrümmern ihre Basisstation sowie den Funkkontakt zu Houston verlieren und frei durchs All schwebend nur wenig Aussichten auf Rettung haben, sehen sich durch ihre Lage mit auf die Spitze getriebenen existentialistischen Ängsten konfrontiert. Sie könnten haltlos durch den Raum stürzen, der Sauerstoff kann ihnen ausgehen, weitere Satellitentrümmer könnten sie in Sekundenbruchteilen wegfegen. "Im Weltall hört dich niemand schreien", hieß es 1979 auf dem Plakat zu Ridley Scotts ALIEN. Was aber viel schlimmer wiegt: Selbst wenn einen jemand hören würde, könnte derjenige rein gar nichts tun, um einen zu retten.


So führt einem GRAVITY in jedem Moment vor Augen, wie abhängig der Mensch in derart lebensfeindlicher Umgebung von der Technik ist - und wie er von ihr eigentlich doch nur notdürftigst geschützt wird. Wir können diese Umgebung nur mit einer Reihe von Vehikeln beschreiten - einem Raumanzug, einem Shuttle, Raumstationen mit künstlichem Luftdruck, Landekapseln. Und weil der Weltraum so unnachgiebig kalt und leer ist, kann jedes Problem diese Hilfsmittel an ihre Grenzen bringen - ein Schema, das Regisseur Alfonso Cuarón immer wieder ausreizt: Stone und Kowalski müssen sich nicht durch eine einzige Problemsituation schlagen, sondern durch eine ganze Kette an Katastrophen.

Wer unter solchen Umständen arbeitet, muß gewissermaßen schon bei Dienstantritt mit dem Leben abgeschlossen haben - beziehungsweise mit der Tatsache Frieden gefunden haben, daß ein Menschenleben sehr kurz sein kann. Kowalski zeigt exakt diese Haltung und lebt damit umso präsenter: Lässig erzählt er Anekdoten aus seinem Leben, witzelt mit den Technikern in Houston und tritt Schwierigkeiten mit bewundernswerter Ruhe entgegen - selbst in fast auswegsloser Lage verschwendet er keine Energie darauf, sein Schicksal zu beklagen, sondern sucht nach Lösungen. Stone hat diese innere Gelassenheit noch nicht erlangt: Sie ist nach nur sechs Monaten Training gerade auf ihrer ersten Mission und muß im Angesicht der Katastrophe gegen ihre Panik und Verzweiflung ankämpfen.


Mit seiner Inszenierung bringt uns Cuarón alle Facetten dieses Überlebenskampfes im All so nahe wie nur möglich: Er geht mit der Kamera klaustrophobisch nahe an Bullocks Gesicht heran - die vor allem in einer Sequenz, wo sie sich damit arrangieren muß, daß sie jetzt wohl sterben wird, eine absolut packende Darbietung abliefert - und kriecht einmal quasi durch die Scheibe ihres Helms, um von ihrer Warte aus das unkontrollierbare Chaos der Katastrophe zu zeigen. In beeindruckend langen Einstellungen erleben wir die Hilflosigkeit der Astronauten ebenso wie ihre unnachgiebigen Versuche, doch noch Auswege zu finden. Unwillkürlich kommen einem die Raumszenen aus Kubricks 2001 in den Sinn, wo Shuttles in perfekt choreographierter Anmut an Stationen andocken und dazu der Donauwalzer erklingt - ein bizarres und doch passendes Gegenstück zu GRAVITY, der dieser ästhetischen Utopie einen schrecklichen (und dabei doch so grandios inszenierten) Realismus entgegensetzt. Wobei Cuarón die erhabene Schönheit des Alls gar nicht ignoriert: Die Bilder der Erde sind ebenso atemberaubend wie der Sonnenaufgang im All, von dem Kowalski meint, daß er den am meisten vermissen wird.

Ein wenig erwartet man bei aller Inszenierungsgewalt einen - quasi gemäß des Titels - gewichtigeren Unterton, eine weitreichendere Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Aber GRAVITY will nicht über die Menschheit philosophieren wie Kubricks 2001 oder Zukunftsbilder zeichnen wie BLADE RUNNER. Cuaróns Film ist ein $100 Mio. teures Kammerspiel, das sich darum dreht, wie der menschliche Geist immer wieder nach vorne schaut, wie er selbst in der völligen Hoffnungslosigkeit nie ganz aufgibt. Angesichts der Tatsache, daß der Mensch letztlich nur ein winziger Punkt in der öden Unendlichkeit von Zeit und Raum ist, ist das eigentlich ein sehr tröstlicher und zugleich trotziger Gedanke: Dem Universum mag es egal sein, ob wir weitermachen. Uns nicht.





Gravity (USA 2013)
Regie: Alfonso Cuarón
Buch: Alfonso Cuarón, Jonás Cuarón
Musik: Steven Price
Kamera: Emmanuel Lubezki
Darsteller: Sandra Bullock, George Clooney, Ed Harris (Stimme)
FSK: 12

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PSYCHO, ein Film von Gus Van Sant - oder: Wieviel Remake soll ein Remake enthalten?

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Auch wenn uns Hollywood derzeit mit Remakes zuschüttet, daß es einer kreativen Bankrotterklärung gleichkommt - das Konzept, Geschichten nochmal zu erzählen, ist an und für sich nichts Ungewöhnliches oder Ungehöriges. Schon Jahrhunderte, bevor es den Film gab, wurden Heldengeschichten und Folklore weitererzählt und umgesponnen; nur ein Beispiel dafür wäre die Artus-Sage, die in unzählbaren Varianten wiedergegeben und festgehalten wurde und selbst heute noch neue Erzählweisen findet. Aber auch im strengeren Rahmen des Mediums "Film" betrachtet muß das Remake-Konzept nicht generell etwas Verwerfliches sein: Mitunter erlaubt es die Neuerzählung, eine Geschichte in einen neuen gesellschaftlichen Kontext zu stellen, ihr neue Betrachtungsweisen abzugewinnen oder sie an eine andere Kultur anzupassen.

Und doch trägt fast jede Ankündigung eines weiteren Remakes einen faden Beigeschmack. Daß hinter dem kreativ völlig legitimen Ansatz der "Nacherzählung" zumeist eine primär finanziell orientierte Motivation steht, ist aber gar nicht mal der Grund für die Skepsis: Es ist vielmehr zunächst einmal die Tatsache, daß kaum ein Remake die oben genannten Möglichkeiten irgendwie ausschöpft. Und schlimmer: Daß man sich für solche zweiten Aufgüsse desselben Teebeutels so ignorant die Meisterwerke der Filmgeschichte vorknöpft, anstatt sich Geschichten zu suchen, bei denen eine Aktualisierung einen tatsächlichen Gewinn bringen könnte. Ein Meisterwerk ist etwas, das die perfekte Form gefunden hat, sagte Alfred Hitchcock einst - ein Gedanke, der als Motto über dem vielleicht überflüssigsten und zugleich für die theoretische Betrachtung wertvollsten Beitrag zur Diskussion über die Natur des Remakes stehen könnte: Der Neuverfilmung von PSYCHO, die Gus Van Sant 1998 gewissermaßen als 1:1-Kopie maßschneiderte.


Dieser PSYCHO ist, wenn man so will, ein großangelegtes Filmexperiment: Van Sant übernahm beinahe komplett die Einstellungen von Hitchcock, den Dialog, die Szenenführung, die Musik, den Schnittrhythmus. Die größten Unterschiede: Der Film ist mit anderen Schauspielern besetzt und in Farbe gedreht. Ansonsten ging der Mimikry-Versuch so weit, daß der Regisseur mit DVD-Player am Set Hitchcocks Szenen studierte, um möglichst nah an das Originalwerk heranzukommen.

Das ruft zunächst exakt jene Reaktion hervor, die die meisten Ankündigungen von Remakes nach sich ziehen: Die Frage nach dem Warum. Warum sollte man exakt dasselbe noch einmal drehen wollen? (Van Sant kokettierte in einem Interview mit einer schönen Gegenfrage: "Why are they asking why?") Wenn wir in der Realität von Hollywood bleiben, ist die Antwort zunächst auch immer dieselbe: Weil es Gewinn verspricht. Das Remake greift etwas Bekanntes auf und zieht es in die Jetztzeit - meistens für Generationen, die die alte Version nie gesehen haben. Und wie wir mittlerweile alle wissen, ist eine namhafte Marke ein guter Grundbaustein für jedes Marketing: Die Kunde von einem neuen PSYCHO-Film verbreitet sich eben schneller und einfacher als die über einen Film, von dem bislang noch nie jemand etwas gehört hat.


Wichtig für den theoretischen Diskurs ist letztlich natürlich auch die Wahl von Van Sants Studienobjekt: Ausgerechnet an einem der großen Klassiker hat er sich zu schaffen gemacht, ausgerechnet am Werk eines stilistisch so ausgeprägten Regisseurs! Aber genau diese Entscheidung - gleichermaßen mutig wie auch wahnwitzig, kann man im Vergleich mit Meister und Klassiker doch eigentlich nur verlieren! - bezieht uns als Zuseher so stark in das Remake-Experiment mit ein: Kaum jemand würde mit der Wimper zucken, wenn Van Sant einen längst vergessenen Film aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt hätte - im Gegenteil, manche hätten es vielleicht sogar begrüßt, wenn eine vergessene Perle wieder Aufmerksamkeit erhält. Daß sich der Regisseur aber an einen Film heranwagt, der sich so tief in das Gedächtnis jedes Kinogängers gegraben hat, stellt sicher, daß wir gar nicht anders können, als über das Verhältnis von Original und Kopie nachzudenken.

Nun ist Van Sants Ansatz ja aber bewußt so gewählt, daß die Geschichte eben nicht aus einem anderen Blickwinkel erzählt wird oder in einen anderen Kontext gestellt wird: Es ist exakt dieselbe Story, auf exakt dieselbe Weise erzählt. Gewiß, es gibt einige dezente Modernisierungsmaßnahmen - aus den im 1960er PSYCHO gestohlenen $40,000 werden hier inflationsangepaßte $400,000 - aber das sind vernachlässigbare Details. Zumal die Story auf keine andere Weise in die Gegenwart geholt wird: Sam wird mit Schallplatten in der Hand gesehen, die Mode wirkt wie aus längst vergangenen Tagen, niemand hat ein Handy, und Marion Crane muß sich noch mit ihrem Lover in einem anonymen Hotelzimmer treffen, um Klatsch zu vermeiden.


Auf gewisse Weise ist Van Sants Film wie ein Exponat aus der Fabrik Andy Warhols: Eine Reflektion über die endlose Reproduzierbarkeit von Kunst. Warhol kopierte Bilder in zigfachen Ausführungen und immer anderen Farben, Van Sant stellt die bekannten Filmbilder für uns nach. Seine Farbgebung folgt dabei auch einem Warholschen Prinzip der Künstlichkeit: Überall leuchten grelle Orange- und Grüntöne, der Nagellack von Marion sticht ebenso wie die Motel-Reklame von Bates in auffälligem Rot ins Auge, der Anzug von Detektiv Arbogast schillert in Dunkelblau. Ganz prinzipiell mal davon abgesehen, daß Hitchcock selber die Künstlichkeit der Bilder nie scheute, wirkt der Film damit wie ein Werk aus der alten Technicolor-Zeit.

Jetzt wird es trickreich, aber umso interessanter: Wenn ein Meisterwerk etwas ist, das seine perfekte Form gefunden hat, wäre dann nicht die Nachstellung dieses Meisterwerks auch eines? Wenn also die Brillanz von PSYCHO in den Bildkompositionen, dem Schnitt, dem Dialog, der Musik usw. liegt - oder vielmehr in ihrem Zusammenspiel - müßte dann nicht auch eine werkgetreue Kopie dieser Elemente ebenso brillant wirken? Ignorieren wir dazu auch mal die Frage der Originalität - ob also im Nachstellen auch ein Schaffensakt inbegriffen sein kann.


Van Sants PSYCHO ist leider keinesfalls brillant. Nicht einmal, wenn man ihn als "eigenständiges" Werk betrachtet (die Anführungszeichen deuten schon an: Es ist ohnehin fast unmöglich, den Film zu sehen, ohne dabei Hitchcocks Film ebenso wahrzunehmen). Es hilft, wenn man den Original-PSYCHO lange nicht gesehen hat und deswegen nicht allzu penibelst jede Sekunde vergleichen kann: Mit etwas Abstand ist PSYCHO ein pfiffiger Thriller und ein makabres Psychogramm - Qualitäten, die er natürlich dem Originalskript verdankt. Rein als Film ist er aber kaum bemerkenswert.

Größtes Problem ist wohl die Besetzung von Vince Vaughn als Psychopath Norman Bates. Man kommt auch hier erstmal nicht um den Vergleich herum: Anthony Perkins war merkwürdig und unheimlich, aber eigentlich tat er einem leid. Man ging nicht davon aus, daß dieser schüchterne, nervöse Junge zu irgendwelchen Untaten fähig wäre. Vaughn dagegen ist schon von der Statur her imposanter, und seine sonderbaren Anflüge signalisieren schon sehr früh, daß mit Bates etwas Gravierendes nicht stimmt. Und das führt zu einem Problem, das auch ohne die Gegenüberstellung beider Filmvarianten existiert: In der Neuverfilmung wirkt es bizarr, daß Marion überhaupt die Nacht im Motel verbringt - Vaughn ist einfach zu creepy, und das nimmt dem Film als Gesamtes die Überraschung, daß Bates sich als Mörder entpuppt.


Die Tatsache, daß die Schauspieler im Remake - darunter interessante Schauspieler wie Julianne Moore, Viggo Mortensen und William H. Macy - ihren Figuren so eine eigene Färbung geben, führt uns aber wieder zur Frage der Kopie. Beziehungsweise zu der Erkenntnis: Natürlich ist PSYCHO keine wirkliche Kopie des Originalfilms, sondern gewissermaßen eine Rekonstruktion. Und weil die so nah am ursprünglichen Werk dran ist, fallen die Unterschiede umso stärker auf - die Liste der Detailabweichungen reicht von Musik, die ein paar Frames früher oder später einsetzt, über eine kleine Handvoll hinzugefügter Shots hin zu dem umdesignten Haus von Bates (das aber natürlich in Einstellungen gezeigt wird, die dem Original entsprechen).

Auf gewisse Weise - vielleicht absichtlich, vielleicht aus Versehen - zeigt Van Sant mit seiner PSYCHO-Variante also, daß es unmöglich ist, Filme wirklich zu kopieren: Es fließen so unendlich viele Variablen und Entscheidungen und Zufälle in jeden Moment eines Films ein, daß die Nachahmung nur eine Annäherung sein kann. Gewissermaßen ist Van Sants Experiment also dadurch geglückt, daß es gescheitert ist. Es zeigt gleichzeitig, daß ein Film wahrscheinlich mehr ist als die Summe seiner Einzelteile: Wenn es so einfach wäre, die Brillanz voriger Werke herüberzuretten, würde es wohl jeder machen. Letztlich liegt die Relevanz eines Kunstwerks ja auch in einem zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext - so penibel Van Sant auch den Film selbst rekonstruiert, er kann nie das Jahr 1960 drumherum bauen, in dem Hitchcocks PSYCHO als bahnbrechend und immens furchteinflößend wahrgenommen wurde.


"Don't fix it if it's not broken", lautet ein schönes englisches Sprichwort. Eigentlich ist Van Sants PSYCHO das Eingeständnis, daß an dem Originalfilm nichts verkehrt war, daß die Geschichte gar keine andere Perspektive braucht. Das macht das Remake als Film natürlich umso sinnloser. Bestenfalls kann man ihn mit einer Theaterdarbietung vergleichen, in der neue Schauspieler die altbekannten Rollen füllen - nur daß wir im Medium Film ja, im Gegensatz zum Theater, die alte Darstellung auf ewige Zeiten abrufbar haben; die Story muß also eigentlich nicht durch weitere Aufführungen "am Leben gehalten" werden.

Aber es wäre wenig ertragreich, Van Sants Versuch einfach in den Giftschrank zu packen und zu vergessen. Das Interessante an Experimenten ist ja oft weniger das konkrete Resultat als die unterwegs aufgeworfenen Fragen - und das, was man letztlich nicht nur über das Versuchsobjekt, sondern auch über sich selbst erfährt. Wir wissen nicht zuletzt aufgrund der Reaktionen auf zahllose Remakes, wie schwierig der Balanceakt zwischen Originaltreue und kreativem Spiel mit der Vorlage ist. Ich selber fühle mich durch das PSYCHO-Remake letztlich in einer meiner Grundphilosophien zum kreativen Schaffen bestärkt: Ich bevorzuge es, wenn ein Werk die Frage nach seinem "Warum" aus sich selbst heraus beantworten kann.




Psycho (USA 1998)
Regie: Gus Van Sant
Buch: Joseph Stefano
Kamera: Christopher Doyle
Musik: Bernhard Herrmann
Darsteller: Vince Vaughn, Anne Heche, Julianne Moore, Viggo Mortensen, William H. Macy, Robert Forster, Philip Baker Hall, Chad Everett, Rance Howard, Rita Wilson, James Remar, James LeGros

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Kontrolle und Wahnsinn in Stanley Kubricks SHINING

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Halb als Scherz stelle ich manchmal zur Debatte, daß es in Stanley Kubricks Horrorklassiker THE SHINING eigentlich um eine Schreibblockade geht. Es ist nicht völlig abwegig: In der psychologischen Terrorstory um einen Mann, der zusammen mit seiner Frau und seinem kleinen Jungen über die Wintermonate ein verlassenes, eingeschneites Hotel bis zur Wiedereröffnung betreut und dabei dem Wahnsinn anheim fällt, brennen sich Dutzende von Szenen und Bildern in das Gedächtnis des Zusehers - darunter auch der absurde, subtil grauenhafte Moment, in dem die Ehefrau das Manuskript durchblättert und dabei feststellen muß, daß der Roman, an dem der Mann schon seit Wochen arbeitet, über hunderte von Seiten hinweg aus der zigfachen Wiederholung eines einziges Satzes besteht: "All work and no play makes Jack a dull boy" (in der deutschen Fassung: "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen"). Es sickert einem erst nach ein paar Augenblicken, wie es um den Geisteszustand dieses Mannes beschaffen sein muß - von dessen Kreativität wir schon geahnt haben, daß sie ähnlich leblos und leer ist wie die gigantische Halle, in der er täglich tippt.

Mit der Schreibblockaden-Theorie ist THE SHINING natürlich ein wenig gegen den Strich gelesen. Wobei: Eigentlich erlaubt es der Film, in vielerlei Hinsicht gedeutet zu werden - künstlerisch, allegorisch, psychologisch, offensichtlich. Was Kubrick aus der Buchvorlage von Stephen King gemacht hat - die ich nicht kenne, aber die offenbar so frei umgesetzt wurde, daß der enttäuschte Autor viel später eine buchstabengetreuere TV-Adaption produzieren ließ - ist ein Horrorfilm, dessen niemals erklärte Ambivalenzen zusammen mit seiner perfektionistischen Umsetzung einen unendlichen Deutungsspielraum geben. THE SHINING kann alles und nichts sein, und bei jedem Ansehen können sich neue Bedeutungen offenbaren.


Daß es um einen Absturz in den Wahnsinn geht - wie so oft bei Kubrick - scheint außer Frage zu stehen: Immerhin nimmt Jack Torrence, unser Möchtegernschriftsteller, die einsame Position als Hauswart im Overlook Hotel an, obwohl er erfährt, daß einer seiner Vorgänger in der Isolation den Verstand verlor und seine Familie mit der Axt tötete. Nicht ganz so eindeutig ist die Frage, wo Jacks eigener Wahnsinn beginnt - ab dem Zeitpunkt, an dem er die Geister des Hotels herumlaufen sieht und eine joviale Unterhaltung mit dem nicht existenten Barkeeper Lloyd führt? Oder schon ab dem Punkt, an dem mit leerem Blick über seinem Manuskript brütet und seine Frau anschreit, daß sie ihn in Ruhe lassen soll? Nicht minder interessant ist die Frage nach der Ursache der Geschehnisse: Ist es das Hotel selbst, das Jack irgendwann selbst zur Axt greifen und seine Familie bedrohen läßt? Spukt es dort? Oder kann Jack doch nicht so mühelos mit der Einsamkeit umgehen, wie er anfangs behauptet, und alle Übernatürlichkeiten sind nur Zeichen seines sich zersetzenden Verstandes?

Es ist - im Rahmen eines Spukhausfilms natürlich - plausibel, daß es der Ort selber ist, der die Rationalität vor die Hunde gehen läßt. Immerhin hat Jacks offenkundig übersinnlich begabter Sohn Danny im Hotel Visionen von Blutbädern und sieht die Geister der beiden Töchter, die Jacks schon erwähnter Vorgänger umgebracht hat. Bei der Übergabe erklärt der Koch des Hotels dem kleinen Jungen, daß Ereignisse Spuren an Orten hinterlassen, und warnt ihn davor, in Zimmer 237 zu gehen - wo Danny später, weil die Neugier natürlich größer ist als die Angst, offenbar angegriffen wird (wir sehen nicht, was passiert; wir sehen nur danach den verstörten Jungen, der Flecken am Hals hat). Auch Wendy, Jacks Frau, begegnet im Finale des Films den Geistern des Hotels.


Ich behaupte aber, daß es Jack ist, der den Wahnsinn mit sich bringt. "You've always been the caretaker", sagt ihm der Geist des früheren Hausmeisters Grady, und da kann man "caretaker" auch in dem Sinne verstehen, daß er derjenige ist, der sich um die Dinge kümmert. Wenn man das Overlook Hotel als allegorischen Ort versteht, also als labyrinthische Falle, in der sich der wahre Mensch offenbart, dann macht es auch Sinn, daß Jack auf einem Bild aus dem Jahr 1921 zu sehen ist: Dieser abgründige Irrgarten der Seele war schon immer Jacks Zuhause. Mitunter wurde an SHINING kritisiert, daß Nicholson schon von Beginn an zu irre wirkt, daß er schon im "Normalzustand" nicht ganz vertrauenswürdig zu sein scheint - aber das könnte genau die Tatsache widerspiegeln, daß er hier nicht wahnsinnig wird, sondern schon vor dem Trip ins Hotel gefährliche Tendenzen hatte.

Immerhin ist das Thema der häuslichen Gewalt sorgsam in den gesamten Film eingewoben. Als Wendy den nach seiner Erforschung von Zimmer 237 verstört und mißhandelt wirkenden Danny vorfindet, fällt ihr Verdacht sofort auf Jack. Der offenbart uns in einem Gespräch mit dem imaginären Barkeeper, daß er schon einmal gegenüber dem Jungen handgreiflich wurde - was er natürlich als "Unfall" abtut. Wenn man diese familiäre Dynamik einmal im Film aufgespürt hat, spürt man sie auch in anderen Momenten: Zum Beispiel in der Szene, in der Danny mit seinem Vater spricht und jede Frage nur zögerlich hervorbringt - bis er dann versichert bekommen will, daß Jack ihm und der Mutter niemals wehtun würde. Auffällig ist auch, wie Mutter und Kind entspannt miteinander spielen und reden, während die Beziehung zwischen Vater und Sohn sehr viel distanzierter und kälter gehalten ist.


Vielleicht ist der ohnehin als durchaus cholerisch gezeichnete Jack also nicht der ideale Familienvater, den der anfängliche Eindruck suggeriert. Wenn Danny befürchten muß, daß sein Vater brutal wird - wie es ja offenbar schon mindestens einmal geschehen ist - dann macht es auch Sinn, daß er Visionen von Blutfontänen und toten Kindern hat, ebenso wie es Sinn macht, daß er einen imaginären Freund erfindet, bei dem er eine gewisse Zuflucht findet. Falls Jack schwerwiegende psychische Probleme hat, könnte sein Sohn ja auch an solchen leiden - was als übersinnliche Begabung gezeigt wird, könnte also die Manifestation einer Störung sein. Auch Wendys oft hysterisches und selbst in unproblematischen Situationen sehr unterwürfiges Verhalten paßt in das Bild der Familie, die den Zorn des Patriarchen fürchten muß.

Bezeichnenderweise findet sich Jack immer wieder in Kontrollphantasien wieder. Die deutlichste davon ist der Moment, in dem der Geist des ehemaligen Hausverwalters ihm nahelegt, seine Familie für ihren Ungehorsam zu "korrigieren" - sprich: zu ermorden - als würde er damit die in ihm aufsteigende Unruhe wieder in Ordnung bringen können. In den Gesprächen mit dem imaginären Hotelpersonal läßt sich Jack immer wieder subtil seine erhöhte Position bestätigen - beispielsweise, wenn er seine Drinks nicht zahlen muß, oder wenn der Kellner, der ihm und sich selbst Saft über die Kleidung schüttet, sich nur um die Jacks Flecken kümmert: "You're the important one". Auch Jacks Buchprojekt ist ein Versuch, Kontrolle über die Unordnung zu gewinnen - sein hundertfach wiederholter Satz ist wie die zwanghafte Bemühung, die Welt überschaubar zu halten. Selbst der Moment, in dem Jack auf ein Modell des in Hotelnähe gelegenen Irrgartens blickt und wir per Trickeffekt darin Wendy und Danny herumlaufen sehen, suggeriert seinen Wunsch, das Geschehen zu beherrschen.


Dieses immense Verlangen nach Kontrolle spiegelt sich in der Inszenierung des Films wider: Jedes Bild strahlt eine kontrollierte Strenge aus, die Macht über die Wirklichkeit zu suchen scheint. Die Einstellungen sind unnatürlich symmetrisch, die Kamera gleitet in exakt geraden Linien die endlosen Korridore entlang oder fährt im perfekten rechten Winkel zum Geschehen. Die Bildkompositionen sind sauber und schnörkellos, und selbst die wiederkehrenden labyrinthischen Motive - sei es der tatsächliche Irrgarten, die nie endende Abfolge von sich verzweigenden Hotelfluren oder das Muster auf den Teppichen - sind so arrangiert, als könnte die Formgenauigkeit ihrer Zufälligkeit Sinn und Ordnung geben.

Zu dieser Kontrollwut paßt natürlich auch der schon legendäre Perfektionismus Kubricks, der ihn dazu trieb, manche Szenen mehr als hundert Mal zu drehen und dabei die weibliche Hauptdarstellerin Shelley Duvall über Monate hinweg immer wieder weit über den Punkt der absoluten Verausgabung zu drängen. Wie VERTIGO einst einen kleinen Einblick in Alfred Hitchcocks Obsessionen erlaubte, gewährt einem vielleicht auch SHINING eine leise Ahnung davon, wie Kubricks notorische Detailverliebtheit ihm Herrschaft über das von ihm geschaffene Universum gibt. Und auch wenn Kubricks kreative Manie ein weitaus produktiveres Resultat hervorbringt als der isolierte Wahn seiner Hauptfigur, kann sich der Filmemacher vielleicht doch zu einem gewissen Grad in einem Menschen wiederfinden, der tausendfach denselben Satz niederschreibt.


Aber treiben wir das Psychogramm des Künstlers mal nicht zu weit: SHINING wäre auch ohne die übliche Mythologisierung seines Machers ein durch und durch vieldeutiger und rätselhafter Film, der trotz und auch gerade wegen seiner penibelst gestalteter Oberfläche einen erschreckenden Blick in einen menschlichen Abgrund gewährt - sei er nun übernatürlich oder psychologisch bedingt. Wie ein David-Lynch-Film ist Kubricks SHINING ein Puzzle, das auf viele Weisen zusammengesetzt werden kann; er ist eine Konfrontation mit tiefverwurzelten Ängsten, die auch auf assoziativer, emotionaler Ebene funktioniert.

Und gerade weil der Film Fragen aufwirft, die er nie beantwortet, funktioniert er auf gewisse Art auch als Spiegelbild zum wirklichen Leben: Es kann hier nur gemutmaßt werden, ab welchem Punkt alles schiefgeht. Bei den meisten Horrorfilmen sind eindeutige Handlungen und Regelverstöße erkennbar, die dann schlechte Konsequenzen über die Figuren und die Welt hereinbrechen lassen - aber SHINING nagt selbst an dem Gedanken, daß alles gut geblieben wäre, wenn Jack den Job im Hotel nie angenommen hätte. Anders gesagt: Das Overlook Hotel wartet überall auf uns. Es ist der Punkt im Leben, an dem die Geister der Vergangenheit unsere Gegenwart bestimmen.




Shining (England/USA 1980)
Originaltitel: The Shining
Regie: Stanley Kubrick
Buch: Stanley Kubrick, Diane Johnson, nach dem Roman von Stephen King
Kamera: John Alcott
Musik: Wendy Carlos, Rachel Elkind
Darsteller: Jack Nicholson, Shelley Duvall, Danny Lloyd, Scatman Crothers, Philip Stone, Joe Turkel

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WORLD WAR Z: Terrorbekämpfung statt Todeskampf

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Es ist interessant, wie sich das Bild des Zombies in all den Jahren gewandelt hat. In George Romeros Endzeitphantasien sind die Untoten noch im wahrsten Sinne des Wortes eigentlich tote Wesen, die in die Welt der Lebenden zurückkehren - nicht umsonst beginnt NIGHT OF THE LIVING DEAD auf einem Friedhof. Auch in den meisten anderen Filmen der von Romero losgetretenen Zombiewelle - darunter z.B. Lucio Fulcis WOODOO - DIE SCHRECKENSINSEL DER ZOMBIES, Amando de Ossorios DIE NACHT DER REITENDEN LEICHEN oder Jorge Graus DAS LEICHENHAUS DER LEBENDEN TOTEN - ist der Untote sehr deutlich ein aus dem Totenreich wiederkehrendes Wesen: In zahlreichen Szenen dieser Filme sehen wir die Leichen, die sich aus ihren Gräbern und Särgen erheben - es ist die menschliche Urangst vor dem Tod selbst, die hier angesprochen wird, beziehungsweise die Unausweichlichkeit des Sterbens.

Heutzutage tritt der Zombie dagegen immer öfter als eine Art infizierter Mensch auf: Auch im modernen Zombiefilm ist dieses Wesen technisch gesehen tot (bzw. untot), aber er steigt nicht aus dem Grab empor, sondern wird durch eine weitergereichte Krankheit geschaffen; der Tod oder dessen Negation spielt bei den jüngeren Apokalypsen nurmehr eine untergeordnete Rolle. Auch die Agilität und Kraft der neueren Untoten zeichnet sie weniger als Wiederkehrer denn als mutierte Berserker - weshalb sie in Filmen wie Danny Boyles 28 DAYS LATER, Paul Andersons RESIDENT EVIL oder eben Marc Forsters WORLD WAR Z ja auch primär als aggressive Infektionsherde betrachtet werden: Ihr Ziel ist nicht die Rache an den Lebenden oder die Sättigung ihres Hungergefühls, sondern die Weiterreichung des Krankheitserregers. Wo der "altmodische" Zombie uns also noch den Spiegel unserer eigenen Sterblichkeit vorhält, fungiert der heutige Untote eher als Chiffre für unsere Furcht vor dem Fremden, vor der ordnungszersetzenden Kraft des Andersartigen.


Aufgrund dieser Verlagerung ist es vielleicht kein Zufall, daß WORLD WAR Z nicht wie ein menschlicher Überlebenskampf erzählt wird, sondern über weite Strecken als militärischer Feldzug gegen den Terror. Unsere Hauptfigur Gerry Lane ist ein ehemaliger UN-Spezialist für Krisengebiete; nachdem in den ersten Filmminuten in urbanem Szenario das Chaos ausbricht, werden er und seine Familie schon bald von den amerikanischen Streitkräften evakuiert und zu einem als Kommandozentrale dienenden Schiff der Navy gebracht. Dort erhält Lane Instruktionen, sich mit einem Wissenschaftler und einer Handvoll Soldaten zu einem Militärstützpunkt in Südkorea zu begeben, weil dort der Ursprung der Zombieseuche vermutet wird. Von dort aus geht es weiter ins hermetisch abgeriegelte Jerusalem - aber auch da können die Armeen des Todes nicht lange aufgehalten werden. Vielleicht ist es recht und billig, daß eine Weltuntergangsvision, die den Krieg im Titel trägt, als Verkettung von soldatischen Kampfeinsätzen erzählt wird - aber dennoch wohnt nicht nur den Bildern von bewaffneten Truppen im abgeschotteten Israel ein unglücklicher Beigeschmack inne.

In der ersten halben Stunde kann Regiseur Forster den Zusammenbruch der Zivilisation durchaus greifbar inszenieren: Der Stau auf der Straße verwandelt sich urplötzlich in eine unüberschaubare Panik, das ängstliche Durcheinander wird schnell zum brutalen Kampf ums Überleben - auch gegen die Mitmenschen, die im Angesicht des Schreckens zu Plünderern und Einzelkämpfern werden. In einem kurzen Moment fängt WORLD WAR Z dieses Ende der gewohnten Ordnung sehr gekonnt ein: Nachdem es in einem Supermarkt zu einem kurzen Feuergefecht zwischen Lane und einem Plünderer gekommen ist, taucht ein Polizist mit gezückter Waffe auf. Lane streckt die Hände in die Höhe und will sich ergeben - und stellt dann nur wenige Sekunden später fest, daß der Polizist sich selber nur Vorräte aus den Regalen schnappen will. Die gewohnten Strukturen haben hier keine Bedeutung mehr.


Das gilt allerdings nicht für die Geschichte selbst: Auch wenn hier der Planet vor die Hunde geht, folgt der Film doch ganz konventionellen Pfaden. Schnell wird das Heil der Menschheit in die Hände des Militärs gelegt, die ja auch prompt unseren Helden auf eine Spezialmission schicken, um die Erde zu retten. Daß der nicht nur Erfahrung im Kriseneinsatz hat, sondern auch mit Waffen umgehen und Flugzeuge fliegen kann, stets kühlen Kopf bewahrt, blitzschnell reagiert und im Finale auch noch mit der Idee für eine Art Impfstoff aufwarten kann, läßt den Horror dieses Weltuntergangs doch auf überschaubare Größe schrumpfen: Brad Pitt wird's schon alles richten. Seine Odyssey von einem Einsatzgebiet zur nächsten, nunja, Terrorzelle ist dabei so traditionell arrangiert, daß seine Frau zwei Drittel des Films damit verbringen darf, die Kinder auf dem Schiff zu hüten und gelegentlich sorgenvoll mit unserem Superhelden zu telefonieren.

Somit ist in WORLD WAR Z die Welt paradoxerweise eigentlich völlig in Ordnung - da helfen auch mit üppigstem Budget orchestrierte Zerstörungen und laufende Beteuerungen der drastischen Lage nichts. Als oberflächlicher Actionthrill funktioniert der Film bestens - schließlich verstehen die Beteiligten ihr Handwerk - und doch haben seine Bilder von Tod und Terror kaum Resonanz, weil die Figuren austauschbare Schablonen bleiben und die Geschichte in ihrer Konventionalität stecken bleibt. Vielleicht wäre diese resümierte Reaktion einmal der Ausgangspunkt für einen wirklich erschreckenden Film: Die Welt geht unter, und uns kratzt das nicht einmal.




World War Z (USA/Malta 2013)
Regie: Marc Forster
Drehbuch: Matthew Michael Carnahan, J. Michael Straczynski, Drew Goddard, Damon Lindeof, nach dem Buch von Max Brooks
Kamera: Robert Richardson (ungenannt), Ben Seresin
Musik: Marco Beltrami
Darsteller: Brad Pitt, Mireille Enos, Daniella Kertesz, James Badge Dale, Matthew Fox, David Morse, Pierfrancesco Favino, Moritz Bleibtreu

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